John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
Prolog
Herbst 2001
Schamali-Ebene, nördlich von Kabul, Afghanistan
John Wells legte den Kopf in den Nacken, um am Himmel nach einigen F-15 Ausschau zu halten, die in der Dunkelheit über ihm langsam ihre Kreise zogen. Selbst tagsüber waren die amerikanischen Jets nur schwer auszumachen. Jetzt, nachdem die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, waren sie nahezu unsichtbar. Wells konnte nur hoffen, dass ihn die Piloten ebenfalls nicht entdeckt hatten, denn die Bomben unter ihren Tragflächen konnten ihn und seine Männer in Sekundenschnelle auslöschen.
Aus den Cockpits dieser Jets musste der Krieg wie ein Videospiel aussehen, dachte Wells. Kleine graue Gestalten liefen lautlos in Zentimeterschritten über die Computermonitore, bis Bomben mit weißen Explosionssternen auf ihnen landeten. Die Wirklichkeit am Boden sah schmutziger aus. Hier ersetzten Blut und Knochensplitter die Pixel. Wells’ Gedanken schweiften zurück zu einem Sonntagmorgen vor vielen Jahren, als sein Vater, der beste Chirurg und Menschenflicker in West-Montana, nach einer langen Operationsnacht in die Küche gekommen war. Er erinnerte sich gut, wie er sich zwanghaft die Hände an der Spüle gewaschen hatte.
»Was war los, Dad?«, hatte Wells an diesem Morgen gefragt. »War es so schlimm?«
Mit seinen zehn Jahren war er alt genug gewesen, um zu wissen, dass er keine solchen Fragen stellen sollte, aber ihn hatte die Neugier überfallen. Herbert drehte den Wasserhahn zu, trocknete sich die Hände, und sah Wells aus müden blauen Augen unverwandt an, während er sich einen Becher Kaffee eingoss. Als sich Wells eben dafür entschuldigen wollte, dass er die Grenzen überschritten hatte, begann sein Vater zu sprechen. Seine Antwort fiel anders aus, als Wells erwartet hatte.
»Das hängt ganz davon ab, auf welcher Seite des Gewehrs du stehst.« Herbert nippte an seinem Kaffee, als wollte er seinen Sohn auffordern, weiter zu fragen. Damals hatte Wells nicht verstanden, was sein Vater meinte, heute verstand er. Nie zuvor lag mehr Wahrheit in einem einzigen Satz. Was wohl sein vor zwei Jahren verstorbener Vater von dem Mann halten würde, der aus ihm geworden war. Kurz nachdem er seinen eigenen Weg gefunden hatte, war Herbert gestorben, und falls er sich tatsächlich eine Meinung gebildet hatte, so hatte er sie für sich behalten.
»Du hast Chirurgenhände, John«, hatte Herbert einmal gesagt, als Wells aufs College ging. Da Wells nicht antwortete, ließ Herbert das Thema fallen. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, dass er seinen eigenen Weg gehen solle und dass in dieser Welt kein Platz für Schwächlinge sei. Wells vermutete, dass er sich diese Lektion zu sehr zu Herzen genommen hatte. Heute war er ein Killer, kein Chirurg. Ein Killer, der es darauf anlegte, anderen Wunden zuzufügen, die kein Chirurg flicken konnte. Dennoch glaubte er, dass Herbert irgendwie verstanden hätte, dass die Welt auch Männer wie ihn brauchte. Zumindest hoffte er das.
Wells gab seine Suche nach Jets auf, ohne den Blick vom Himmel abzuwenden. In diesem Land ohne elektrischen Strom strahlten die Sterne und der Mond in einer Helligkeit, die er lieben gelernt hatte. Im Geist zählte er alle ihm bekannten Sternbilder auf, an die er sich erinnern konnte, bis ihm ein Windstoß Staub in die Augen blies und seine Aufmerksamkeit wieder auf die Erde lenkte.
Achmed, seine rechte Hand, stieg über die Feuerstelle und trat an seine Seite. »Es ist kalt«, sagte Achmed leise auf Arabisch.
»Nam.« Ja.
Der Wind hatte tagsüber zu einer eisigen Brise aus dem Norden aufgefrischt, die einen bitterkalten Winter versprach. Jetzt, während der Nacht, kamen besonders heftige Böen auf, die die Asche des Feuers hochwirbelten, das Wells und seine Männer entfacht hatten. Sie machten all ihre Bemühungen zunichte, sich warm zu halten. Die Decke enger um die Schultern gezogen, gesellte sich Wells zu den Männern, die um das niedrige Feuer kauerten. Er hätte ihnen gern ein größeres Feuer gegönnt, aber er durfte es nicht riskieren, die Aufmerksamkeit der Jets auf sich zu lenken.
»Das wird ein langer Winter.«
»Mhm«, stimmte Wells zu.
»Oder ein kurzer«, fuhr Achmed fort, während ein grimmiges Lächeln über sein Gesicht huschte. »Vielleicht sind wir ja schon im Paradies, bevor es Frühling wird.«
»Vielleicht schickt uns der Scheich aber auch alle auf Urlaub«, erlaubte sich nun Wells einen Scherz, was selten vorkam. »Oder auf den Hadsch« – jene Wallfahrt nach Mekka, die
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