Jorina – Die Jade-Hexe
einzigen Gedanken war. Sobald sie ihn mit Befürchtungen und Ratschlägen durcheinanderbrachte, bekam er einen Wutanfall. Wie sie sich wünschte, ihn und seine Andeutungen, seine Hände und seine unausgesprochenen Wünsche endlich loszuwerden!
Nein, sie wollte jetzt nicht weiter darüber nachdenken! Dieses Problem würde sich erst stellen, wenn der Ritter wieder gesund war. Bis dahin musste ihr etwas einfallen. Würde ihr auch. Ganz sicher. Sie umklammerte die breiten Schultern des Mannes und fühlte sein Gewicht auf ihren Oberschenkeln.
»Ihr dürft nicht sterben!« beschwor sie ihn voller Eindringlichkeit, wie sie es schon so oft getan hatte. »Ich könnte es nicht ertragen!«
Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als sie ein besonders tiefes Schlammloch aus ihren Befürchtungen und Beschwörungen riss. Das ohnehin schon wackelige Gefährt brach polternd mit dem Vorderrad in eine tiefe Mulde. Es ächzte in allen Verbindungsstücken und kippte langsam zum Wegrand. Jorinas leiser Aufschrei ging im Knirschen von Steinen, Rädern und splitterndem Holz unter, als der Wagen Übergewicht bekam und der Boden unter ihren Füßen krachend auseinanderbrach.
Schützend warf sie ihre Arme um den Oberkörper des Verwundeten und umklammerte ihn mit aller Kraft. Die Wucht des Aufpralls schleuderte sie zur Seite, sodass sie auf der plötzlich schrägen Fläche gegen die morsche Wand des Fuhrwerks rutschten. Die schadhaften Planken gaben unter dem Gewicht des doppelten Aufstoße nach.
Jorina fiel gemeinsam mit ihrer kostbaren Last. Woher sie die Kraft nahm, den Verwundeten nicht loszulassen, vermochte sie nicht zu sagen. Es kam ihr vor, als liefe alles verlangsamt ab, als würden sie beide einen Moment in der Schwebe verharren, bevor sie hart mit dem Rücken auf runde Steine prallte. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, überhaupt keine Luft mehr zu bekommen.
Alles tat ihr weh, ihr gesamter Körper schmerzte. Und dennoch hatte sie den fremden Ritter nicht losgelassen, sein Gewicht drückte sie nieder.
Dem Himmel sei Dank, ihr Körper hatte ihn vor den schlimmsten Folgen des Aufpralls geschützt! Dafür nahm sie die blauen Flecken und Aufschürfungen gern in Kauf, auch wenn jeder Atemzug in ihren Lungen schmerzte. Sie lauschte und hörte, dass sein Atem regelmäßig kam, aber sie spürte keine Bewegung. Zum ersten Mal war sie dankbar dafür, dass er bewusstlos war.
Mit einer gewissen Verzögerung nahm sie endlich auch die Geräusche um sich herum wahr. Der Zugochse brüllte in höchster Panik, weil er sich in den Trümmern des Geschirrs und des zerbrochenen Wagens verheddert hatte. Aber daneben war auch das Gebrüll von Männerstimmen, waren Waffengeklirr und Flüche zu hören. Irgendwo im Dunkel der Nacht war ein Kampf um Leben und Tod im Gange! Woher kamen diese Männer? Hatte Edwy sie verraten?
Merkwürdigerweise fiel ihr ausgerechnet in diesem gefährlichen Augenblick auf, dass die Wangen des Verwundeten nicht mehr so glühend heiß wie an den Vortagen brannten. Sein Wundfieber ließ nach, würde abklingen, falls er sich nicht bei diesem vermaledeiten Sturz neuerlich verletzt hatte. Sie versuchte, sich vorsichtig von seiner drückenden Last zu befreien, aber bereits diese kleine Bewegung brachte sie selbst aus dem Gleichgewicht.
Sie wollte sich unter ihm herausschieben und auf die Knie kommen, statt dessen rutschte sie mitsamt ihrer Last endgültig über die Kante eines steilen Grabens, der neben dem Weg verlief. Auf feuchtem Laubwerk und nassem Gras und glitschigem Moos schlitterten sie nach unten, bis sie mit den Beinen in brackigem Wasser landete.
Im ersten Schreck ließ Jorina den Verwundeten los. Er sackte kraftlos in sich zusammen und sank unaufhaltsam tiefer in das eiskalte, stehende Wasser. Jorina rang zitternd um Atem, und erst eine Berührung an ihren Knien machte ihr die Gefahr bewusst. Im letzten Moment griff sie zu, ehe sein Gesicht unter Wasser glitt. Die Zähne zusammengebissen, zerrte sie an der schweren Gestalt, bis wenigstens der Oberkörper gegen den Hang lehnte. Es war ihr jedoch nicht möglich, ihn ganz aus dem Sumpf zu ziehen.
Keuchend richtete sie sich auf und strich sich die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn. Nass bis auf die Haut, mit Schürfwunden und Prellungen bedeckt, die sie in der Dunkelheit nicht sehen, aber mehr als deutlich fühlen konnte, empfand sie nichts als Wut auf Edwy. Entweder hatte er diese Katastrophe durch seinen Leichtsinn oder durch seine Gier
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