Jorina – Die Jade-Hexe
er endlich die Augen geöffnet hatte.
»Ihr seid nicht blind«, beruhigte sie ihn und lachte, weil sie einfach glücklich darüber war, dass sie es geschafft hatte, ihn zu wecken. »Es ist finstere Nacht. Wir hatten einen Unfall mit dem Fuhrwerk und wurden in einen Graben am Rande des Weges geschleudert. Das heißt, eigentlich war es ein Überfall. Und ich fürchte, dass Edwy uns beiden nicht länger helfen kann!«
Ihre ruhigen Worte nahmen ihm seine Angst, dass er erblindet sein könnte. Jorina merkte, dass er ein paarmal tief durchatmete und sich dazu zwang, über all das nachzudenken, was er nicht verstehen konnte.
»Ich verstehe nicht ...«, murmelte er heiser. »Ich war auf dem Schlachtfeld, und um mich herum waren all die Toten. Ich suchte mein Schwert ... und dann die Schreie! Das Blut, die sterbenden Männer ... Und dann hat mir jemand gesagt, die Schlacht sei vorbei. Eine Frau ... Himmel, es fühlt sich an, als wolle mein Kopf zerspringen ...«
»Plagt ihn nicht länger«, riet Jorina. »Wenn Ihr wieder gesund seid, werdet Ihr genügend Zeit haben, über all dies nachzudenken. Im Moment ist es dringlicher, dass wir uns aus diesem Matsch retten ...«
»Wo ... sind wir? Nicht länger in Auray?«
Jorina seufzte. Wie sollte sie ihm erklären, was sie in bester Absicht für ihn hatte tun wollen?
»Im Moment sind wir irgendwo neben der Straße, die durch die östlichen Teile des Waldes von Penhors führt«, antwortete sie. »Unser Ziel war Locmine, wo wir in einer Köhlerhütte Unterschlupf zu finden hofften.«
»W-Weshalb ...«, flüsterte er.
»Ihr solltet mit den anderen Männern des Herrn von Blois nach Rennes gebracht werden«, erklärte Jorina mit einem Seufzer. »Gefangen gesetzt, bis das Lösegeld Eurer Familie für Euch eintrifft. Der Kerker hätte Euren sicheren Tod bedeutet!«
»Aber ... ein Graben im Forst ... ist meiner Gesundheit ebenfalls nicht besonders zuträglich ...«
Jorina ertappte sich zur eigenen Überraschung erneut bei einem unpassenden Lachen. Er hatte ja recht, aber es war dennoch komisch.
»Ich sagte es schon, wir waren unterwegs zu einem Versteck, als wir in diesen Hinterhalt gerieten«, erwiderte sie, als sie wieder ernst geworden war.
»Wir?«
»Edwy, der Söldner, der ebenfalls kein Verlangen nach dem Kerker des Herzogs hatte, und ich. Ich bin Jorina, die No ... eine Magd«, verbesserte sie sich gerade noch. Die Ereignisse hatten ihrer Konzentration geschadet. Um ein Haar wäre ihr ein Geständnis herausgerutscht, das sie niemand machen wollte.
»Wir fuhren nur bei Nacht«, fuhr sie schnell fort. »Wir wollten kein Risiko eingehen, aber Edwy kannte den Weg doch nicht so gut, wie er sagte ...«
Sie erhielt keine Antwort darauf und akzeptierte dieses Schweigen mit einem gleichgültigen Achselzucken. Doch diese Bewegung schmerzte höllisch und erinnerte sie daran, dass der Unfall auch für sie nicht ohne Folgen geblieben war. Sie wusste kaum, wie sie selbst den steilen Abhang überwinden sollte. Geschweige denn, wie sie einen Verwundeten hinaufschaffen konnte, der doppelt soviel wie sie selbst wog und die Größe eines Riesen hatte.
»Wie fühlt Ihr Euch?« erkundigte sie sich bang. »Glaubst Ihr, dass Ihr Euch zum Weg hinauf ziehen könnt? Vielleicht, wenn ich Euch stütze ...«
»Lass mich ... h-hier liegen«, sagte er leise.
»Ich denke nicht daran«, widersprach Jorina entschlossen und kroch an seine gesunde Seite. »Kommt, lasst Euch helfen!«
»Welchen Grund sollte ich haben?« entgegnete er rauh. »Lass mich allein, Mädchen!«
»Ich denke nicht daran«, schnaufte Jorina und legte sich seinen Arm um die Schultern. »Ich weiß, dass Ihr ein Edelmann und es nicht gewohnt seid, auf die Hilfe einer einfachen Magd angewiesen zu sein. Aber in diesem Augenblick solltet Ihr besser nehmen, was Ihr bekommen könnt!«
»Du missverstehst mich«, protestierte er erneut. »Ich bin es nicht wert ...«
»Ein jeder Christenmensch ist wert, dass ihm ein anderer hilft«, unterbrach ihn Jorina mit einem Lieblingsspruch von Mutter Elissa.
»Ich wünschte, ich hätte deinen Glauben«, entgegnete er mit einem Hauch von Spott. »Was können wir schon tun? Sagtest du nicht etwas von einem Mann, der dich begleitet hat? Edwy?«
Jorina wischte sich die feuchten Haare aus der Stirn. »Ich fürchte, Edwy leistet uns in diesem Graben Gesellschaft, und seine Verfassung ist noch ärger als die unsere. Erst einmal sollten wir aus diesem grässlichen Morast heraus«, wiederholte sie.
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