Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)
sich wiederholte, als darin, daß es gegenwärtig wurde. Daß es aber Gegenwart gewinnen konnte, beruhte darauf, daß die Umstände, die es herbeigeführt hatten, jederzeit gegenwärtig waren. Jederzeit waren die Wege des Fleisches verderbt oder konnten es bei aller Frömmigkeit sein; denn wissen auch die Menschen, ob sie es gut oder schlecht machen vor Gott und ob nicht, was ihnen gut scheint, den Himmlischen ein Greuel ist? Die blöden Menschen kennen Gott nicht und nicht den Ratschluß der Unterwelt; jederzeit kann die Nachsicht sich als erschöpft erweisen, das Gericht in Kraft treten, und an einem Warner hat es wohl auch nicht gefehlt, einem Wissenden und Hochgescheiten, welcher die Zeichen zu deuten wußte und durch kluge Vorkehrungen als einziger von Zehntausenden dem Verderben entrinnt, – nicht ohne zuvor die Tafeln des Wissens als Samen zukünftiger Weisheit der Erde anvertraut zu haben, damit, wenn die Wasser sich verlaufen, aus dieser Schriftsaat alles wieder beginnen könne. Jederzeit, das ist das Wort des Geheimnisses. Das Geheimnis hat keine Zeit; aber die Form der Zeitlosigkeit ist das Jetzt und Hier.
Die Sintflut spielte also am Euphrat, aber in China spielte sie auch. Um das Jahr 1300 vor unserer Zeitrechnung gab es dort eine fürchterliche Ausschreitung des Hoang-Ho, die übrigens zur Regulierung des Stromes Anlaß gab, und in der die große Flut wiederkehrte, welche ungefähr tausendundfünfzig Jahre früher, unter dem fünften Kaiser, stattgefunden hatte und deren Noah Yau hieß, die aber, zeitlich genommen, noch lange nicht die wahre, die erste Sintflut war, denn die Erinnerung an diesen Originalvorgang ist den Völkern gemeinsam. Genau wie die babylonische Fluterzählung, die Joseph kannte, nur eine Nachschrift älterer und immer älterer Originale war, ebenso ist das Fluterlebnis selbst auf immer entlegenere Urbilder zurückzuführen, und besonders gründlich glaubt man zu sein, wenn man als letztes und wahres Original das Versinken des Landes Atlantis in den Meeresfluten bezeichnet, wovon die grauenvolle Kunde in alle einst von dorther besiedelten Gegenden der Erde gedrungen sei und sich als wandelbare Überlieferung für immer im Gedächtnis der Menschen befestigt habe. Das ist jedoch nur ein Scheinhalt und vorläufiges Wegesziel. Eine chaldäische Berechnung ergibt, daß zwischen der Sintflut und der ersten geschichtlichen Dynastie des Zweistromlandes ein Zeitraum von 39 180 Jahren lag. Folglich kann der Atlantis-Untergang, nur neuntausend Jahre vor Solon gelegen und unter dem erdgeschichtlichen Gesichtswinkel betrachtet eine sehr junge Katastrophe, bei weitem nicht die Sintflut gewesen sein. Auch er war nur eine Wiederholung, das Gegenwärtigwerden von etwas tief Vergangenem, eine fürchterliche Gedächtnisauffrischung; und der Geschichte eigentlicher Ursprung ist mindestens bis zu dem unberechenbaren Zeitpunkt zurückzuverlegen, wo die »Lemuria« genannte Festlandinsel, die ihrerseits nur ein Überrest des alten Gondwanakontinentes war, in den Wogen des Indischen Ozeans verschwand.
Was uns beschäftigt, ist nicht die bezifferbare Zeit. Es ist vielmehr ihre Aufhebung im Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung und Prophezeiung, welche dem Worte »Einst« seinen Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft und damit seine Ladung potentieller Gegenwart verleiht. Hier hat die Idee der Wiederverkörperung ihre Wurzeln. Die Könige von Babel und beider Ägypten, jener bartlockige Kurigalzu sowohl wie der Horus im Palaste zu Theben, genannt Amun-ist-zufrieden, und alle ihre Vorgänger und Nachfolger waren Erscheinungen des Sonnengottes im Fleische – das heißt, der Mythus wurde in ihnen zum Mysterium, und zwischen Sein und Bedeuten fehlte es an jedem Unterscheidungsraum. Zeiten, in denen man darüber streiten konnte, ob die Oblate der Leib des Opfers »sei« oder ihn nur »bedeute«, sollten erst dreitausend Jahre später sich einstellen; aber auch diese höchst müßigen Erörterungen haben nichts daran zu ändern vermocht, daß das Wesen des Geheimnisses zeitlose Gegenwart ist und bleibt. Das ist der Sinn des Begängnisses, des Festes. Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und aufzufahren. Und wenn Joseph zu Sichem oder Beth-Lahama um die Mittsommerzeit beim »Fest der weinenden Frauen«, dem »Fest des Lampenbrennens«, dem Tammuzfest den Mordtod des »vermißten Sohnes«, des Jüngling-Gottes,
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