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Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)

Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)

Titel: Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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deutlich, daß jedes Überhandnehmen der Sündhaftigkeit auf Erden, wie etwa vor der Flut und zu Sodom und Gomorra, regelmäßig einen Triumph für die heilige Umgebung und eine Verlegenheit für den Schöpfer bedeutet, welcher dann gezwungen ist, fürchterlich aufzuräumen – und zwar weniger nach eigenem Sinn als unter dem moralischen Druck der Himmel. Werden aber diese Dinge mit Recht herausgefühlt: wie steht es dann um die Aufgabe des »zweiten Abgesandten«, des Geistes, und ist er wirklich gesandt, die Aufhebung der materiellen Welt durch die Lösung der Seele aus ihr und ihre Heimführung zu betreiben?
    Die Vermutung ist möglich, daß dies nicht Gottes Meinung ist und daß der Geist tatsächlich nicht, seinem Rufe gemäß, der Seele nachgesandt wurde, um den Totengräber der von ihr unter gütiger Beihilfe Gottes geschaffenen Formenwelt zu spielen. Das Geheimnis ist vielleicht ein anderes, und vielleicht beruht es in dem Sinn der Lehre, der zweite Gesandte sei der zuerst gegen das Böse entsandte Lichtmensch noch einmal gewesen. Wir wissen längst, daß das Geheimnis die Zeitfälle frei behandelt und sehr wohl in der Vergangenheit sprechen mag, wenn es die Zukunft meint. Es ist möglich, daß die Aussage, Seele und Geist seien eins gewesen, eigentlich aussagen will, daß sie einmal eins werden sollen. Ja, dies erscheint um so denkbarer, als der Geist von sich aus und ganz wesentlich das Prinzip der Zukunft, das Es wird sein, es soll sein, darstellt, während die Frömmigkeit der formverbundenen Seele dem Vergangenen gilt und dem heiligen Es war. Wo hier das Leben ist und wo der Tod, bleibt strittig; denn beide Teile, die naturverflochtene Seele und der außerweltliche Geist, das Prinzip der Vergangenheit und das der Zukunft, nehmen, jedes nach seinem Sinn, in Anspruch, das Wasser des Lebens zu sein, und jedes beschuldigt das andere, es mit dem Tode zu halten: keiner mit Unrecht, da Natur ohne Geist sowohl als Geist ohne Natur wohl schwerlich Leben genannt werden kann. Das Geheimnis aber und die stille Hoffnung Gottes liegt vielleicht in ihrer Vereinigung, nämlich in dem echten Eingehen des Geistes in die Welt der Seele, in der wechselseitigen Durchdringung der beiden Prinzipien und der Heiligung des einen durch das andere zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt.
    Dies also wäre als geheime Möglichkeit und letzte Deutung der Lehre in Betracht zu ziehen, – wenn auch stark zu bezweifeln bleibt, daß jenes vorerwähnte, aus allzu lebhafter Empfänglichkeit für den Vorwurf tödlichen Wesens entspringende, selbstverleugnerische und liebedienerische Gebaren des Geistes der rechte Weg zu einem solchen Ziele ist. Möge er der stummen Leidenschaft der Seele nur seinen Witz leihen, die Gräber feiern, die Vergangenheit den alleinigen Quell des Lebens nennen und sich selbst als den boshaften Zeloten und mörderisch lebenknechtenden Willen bekennen und preisgeben: er bleibt, wie er sich stelle, doch, der er ist: der Bote der Mahnung, das Prinzip der Anstoßnahme, des Widerspruchs und der Wanderschaft, welches die Unruhe übernatürlichen Elendes in der Brust eines Einzelnen unter lauter lusthaft Einverstandenen erregt, ihn aus den Toren des Gewordenen und Gegebenen ins abenteuerlich Ungewisse treibt und ihn dem Steine gleichmacht, der, indem er sich löst und rollt, ein unabsehbar wachsendes Rollen und Geschehen einzuleiten bestimmt ist.

10
    So bilden sich Anfänge und Vorlagerungen der Vergangenheit, bei denen besondere Erinnerung sich geschichtlich beruhigen mag, wie Joseph bei Ur, der Stadt, und des Ahnen Auszug aus ihr. Eine Überlieferung geistiger Beunruhigung war es, die er im Blute hütete, von der das ihm nahe Leben, Welt und Wandel seines Vaters bestimmt waren und die er wiedererkannte, wenn er die Tafelverse vor sich hinsprach:
    »Warum bestimmtest du Rastlosigkeit
    meinem Sohne Gilgamesch,
    Gabst ihm ein Herz, das von Ruhe nicht weiß?«
    Unkenntnis der Ruhe, Fragen, Horchen und Suchen, ein Werben um Gott, ein bitter zweifelvolles Sichmühen um das Wahre und Rechte, das Woher und Wohin, den eigenen Namen, das eigene Wesen, die eigentliche Meinung des Höchsten, – wie drückte das alles sich, vom Ur-Wanderer her durch die Geschlechter vermacht, in Jaakobs hochgestirnter Greisenmiene, in dem spähend besorgten Blick seiner braunen Augen aus, und wie vertraulich liebte Joseph dies Wesen, das sein selber als eines

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