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Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)

Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)

Titel: Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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gleichsetzte, so war das ein Gedankenspiel, das seinen Geist recht anmutig kleidete, dem unsrigen aber als unschicklich verwehrt ist. Ebenso lag es mit seiner gelegentlichen Verwechselung des Ur-Mannes mit seines Vaters Ältervater, der ähnlich oder ebenso geheißen hatte wie jener. Zwischen dem Knaben Joseph und der Wanderschaft des geistig-leiblichen Vorfahren lagen, zeitrechnerischer Ordnung zufolge, an der es seiner Epoche und Gesittungssphäre keineswegs fehlte, gut und gern zwanzig Geschlechter, rund sechshundert babylonische Umlaufsjahre, eine Spanne, so weit wie von uns zurück ins gotische Mittelalter, – so weit und auch wieder nicht.
    Denn haben wir die mathematische Sternenzeit auch unverändert von dort und damals übernommen, das heißt aus Tagen weit vor dem Wandel des Mannes aus Ur, und werden wir sie ebenso auch noch den spätesten Enkeln vererben, so ist doch Bedeutung, Schwergewicht und Erfülltheit der Erdenzeit nicht immer und überall ein und dieselbe; die Zeit hat ungleiches Maß, trotz aller chaldäischen Sachlichkeit ihrer Bemessung; sechshundert Jahre wollten dazumal und unter jenem Himmel nicht das besagen, was sie in unserer abendlichen Geschichte sind; sie waren ein stilleres, stummeres, gleicheres Zeitgebreite; die Zeit war minder tätig, die ändernde Wirksamkeit ihrer steten Arbeit an Dingen und Welt geringer und milder, – wiewohl sie natürlich in diesen zwanzig Menschenaltern Veränderungen und Umwälzungen beträchtlicher Art betätigt hatte, natürliche Umwälzungen sogar, Veränderungen der Erdoberfläche in Josephs engerem Kreise, wie wir wissen, und wie er wußte. Denn wo waren zu seiner Zeit Gomorra und Lots aus Charran, des in des Ur-Mannes enge Verwandtschaft Aufgenommenen, Wohnsitz: Sodom, die wollüstigen Städte? Der bleierne Laugensee lag dort, wo ihre Unzucht geblüht hatte, kraft einer Umkehrung der Gegend in pechig-schweflichter Feuerflut, so fürchterlich und scheinbar alles vertilgend, daß Lots beizeiten mit ihm entwichene Töchter, dieselben, die er anstatt gewisser ernster Besucher der Begierde der Sodomiten hatte anbieten wollen, – daß sie, in dem Wahne, es sei außer ihnen kein Mensch mehr auf Erden, sich in weiblicher Sorge um das Fortbestehen des Menschengeschlechts mit ihrem Vater vermischt hatten.
    So sichtbare Umgestaltungen also hatten die Läufte immerhin hinterlassen. Es hatte Segenszeiten gegeben und Fluchzeiten, Fülle und Dürre, Kriegszüge, wechselnde Herrschaft und neue Götter. Und doch war im ganzen die Zeit erhaltenderen Sinnes gewesen als unsere; Josephs Lebensform, Denkungsart und Gewohnheiten unterschieden sich von denen des Ahnen weit weniger als die unsrigen von denen der Kreuzfahrer; die Erinnerung, auf mündlicher Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht beruhend, war unmittelbarer und zutraulich-ungehinderter, die Zeit einheitlicher und darum von kürzerem Durchblick; kurzum, es war dem jungen Joseph nicht zu verargen, wenn er sie träumerisch zusammenzog und, manchmal wenigstens, bei minder genauer Geistesverfassung, des Nachts etwa, bei Mondlicht, den Ur-Mann für seines Vaters Großvater hielt – bei welcher Ungenauigkeit es nicht einmal sein Bewenden hatte. Denn wahrscheinlich, wie wir nun hinzufügen wollen, war der Ur-Mann gar nicht der eigentliche und wirkliche Mann aus Ur. Wahrscheinlich (auch dem jungen Joseph war es in genauen Stunden, am Tage, wahrscheinlich) hatte dieser die Mondburg von Uru niemals gesehen, sondern sein Vater schon war es gewesen, der von dort ausgewandert war, gen Norden, nach Charran im Lande Naharin, und aus Charran also erst war der fälschlich so genannte Ur-Mann, auf Weisung des Herrn der Götter, nach Amoriterland aufgebrochen, zusammen mit jenem später zu Sodom ansässigen Lot, den die Gemeinschaftsüberlieferung träumerischerweise für des Ur-Mannes Brudersohn erklärte, und zwar insofern er »der Sohn Charrans« gewesen sei. Gewiß, Lot von Sodom war ein Sohn Charrans, da er von dort stammte, so gut wie der Ur-Mann. Aber aus Charran, der Stadt des Weges, einen Bruder des Ur-Mannes und also aus dem Proselyten Lot einen Neffen von ihm zu machen, war eitel Träumerei und Gedankenspiel, bei Tage nicht haltbar, doch recht danach angetan, zu erklären, wie es dem jungen Joseph so leicht fiel, seine kleinen Verwechselungen zu vollziehn.
    Er tat es mit demselben guten Gewissen, mit welchem etwa die Sternendiener und -deuter von Sinear bei ihren Wahrsagungen nach dem Grundsatz der

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