Judassohn
Treppenhaus hinab.
Beginnt ihr Schlafwandeln schon am helllichten Tag?
»Machen Sie es sich bequem. Falls Gäste kommen und ich nicht zurück bin, öffnen Sie ihnen die Tür!« Sie hetzte los.
Tonja sah ihr hinterher. »Danke vielmals!«
Als Emma um den Absatz herum verschwunden war und kurz darauf die Hauseingangstür rumpelnd ins Schloss fiel, drehte sie den Kopf nach vorne. Sie legte die Hände auf den Rücken und machte einen überlegten Schritt in die Wohnung. Und blieb stehen.
Die flachen Sohlen ihrer Turnschuhe verursachten kein Geräuschauf dem altehrwürdigen Dielenboden, der normalerweise unter der geringsten Belastung knarzte.
Tonja schloss die Augen und atmete tief ein.
Sie sog die Gerüche ein, lauschte auf die Geräusche und ließ sie auf sich wirken.
Nach gut zwei Minuten schlüpfte sie aus den Schuhen und setzte sich auf blutroten Strümpfen lautlos in Bewegung.
Sie strich ungeniert durch die Zimmer, roch an Elenas und Emmas Kissen auf den Betten, roch an ihren Handtüchern im Bad, roch an den Jacken und Mützen im Flur. Als wollte sie eine Spur aufnehmen und wäre auf der Suche nach einer ganz bestimmten Person.
Mit den Fingerspitzen nahm sie jeweils ein Haar aus den Bürsten von Mutter und Tochter. Beide landeten in der Manteltasche.
Im Spiegel vor der Garderobe musterte sie sich.
Ganz zufrieden war sie nicht mit dem, was sie sah. Ihre rechte Hand strich über die Wange, und der Knochen veränderte sich. Er wölbte sich leicht, verschob sich und gab dem Gesicht eine neue Note. Die andere Seite passte sich der Wandlung an und machte Tonja ihrer Cousine Sia noch ähnlicher, so dass es keine Zweifel mehr an der Verwandtschaft geben würde.
»Besser«, sagte sie zu sich selbst und grinste. Perfekte Zähne leuchteten weiß auf.
Sie zog den Mantel aus und hing ihn an den Bügel. Dann ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich brav auf die gemütliche dunkelbraun und weiß gemusterte Couch. Tonja hatte alles gesehen und gerochen, was sie hatte sehen und riechen wollen. Sie war in der Ritterstraße richtig.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Eine Tür öffnete sich, Papiertüten raschelten laut.
Tonja beugte sich nach vorn, um den Eingang sehen zu können.
Emma schob Elena hinein und hatte ein Brot unterm Arm. »Das nächste Mal sagst du mir was, bevor du einfach so verschwindest.«
»Mama, das erzählst du mir zum vierten Mal, seit du mich abgefangen hast«, gab sie zurück. »Aber ich habe laut gerufen, dass ich zum Bäcker gehe und die Bestellung abhole.« Sie zogen die nassen Schuhe auf dem Läufer aus und stellten sie neben die Tür. »Und von
uns
beiden hast
du
vergessen, dass wir noch was abholen müssen.« Ihre Blicke fielen auf die unbekannten Turnschuhe, dann auf den dunkelgrauen Mantel. »Schon jemand da?«
»Ja. Sias Cousine. Sie heißt Tonja. Den Nachnamen habe ich mir nicht gemerkt. Irgendwas mit -wili am Ende.«
»Was? Sie hat eine Cousine?« Elena rannte den Korridor entlang und linste ins Wohnzimmer. »Hallo«, sagte sie und schlenderte tänzelnd auf die schlanke Frau zu, die es sich mit ein paar Kissen auf der Couch gemütlich gemacht hatte. »Wir wussten gar nicht, dass Sia eine Cousine hat!« Sie blieb vor ihr stehen und musterte sie eindringlich. »Sieht man aber. Die Verwandtschaft.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen.
»Danke sehr«, gab Tonja zurück.
»Sei nicht so vorlaut«, wies Emma Elena an und trug das Brot herein, legte es auf den Couchtisch. »Zieh bitte deine Hausschuhe an, Töchterchen.« Ihr fiel auf, dass Tonja kein Parfüm aufgelegt hatte, was sie ungewöhnlich bei einer Frau fand. Gerade wenn sie so gut aussah und Wert auf anspruchsvollere Kleidung legte. »Sie kommt aus London.«
»Das ist in England. Die Hauptstadt.« Elena fischte die Tigerhausschuhe unter der Couch hervor. »Warum sind Sie denn bei uns und nicht bei Sia?«
»Sia war nicht zu Hause, und das Krankenhaus gab mir eure Nummer. Ich habe es ein paar Mal mit Anrufen versucht, bis ich spontan beschlossen habe vorbeizukommen«, antwortete Tonja,die das kleine Verhör erfreulicherweise mit Belustigung hinnahm. »Ich muss mich entschuldigen, wie ich deiner Mutter schon sagte. Aber ich wollte meine Cousine überraschen, und mein Flug geht schon bald wieder zurück. Deswegen wollte ich unbedingt mit ihr zusammentreffen.«
»Cousine heißt, dass die Schwester von Sia Ihre Mutter war, richtig? Oder der Bruder Ihr Vater?«, meinte Elena im Versuch, die Verwandtschaft zu
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