Judassohn
ergründen. »Wieso wohnen Sie denn in London, und warum haben Sie sich niemals bei ihr gemeldet?«
»Das ist alles ein bisschen kompliziert«, erwiderte Tonja seufzend. »Die Schwestern hatten sich zerstritten, meine Mutter wanderte nach England aus und hat mir bis zu ihrem Tod nichts von der Familie erzählt. Ich habe ein Jahr lang nach Spuren gesucht, quer durch alle Länder, bis ich sie gefunden habe. Dann hielt mich nichts mehr.« Sie sah auf die Uhr. »Wann beginnt Ihre Party, Frau Karkow? Glauben Sie, dass Sia früh hier sein wird? Mein Flieger geht in vier Stunden.«
»Wir können sie anrufen!«, quakte Elena begeistert, deren Ablehnung mehr und mehr wich. »Das ist doch toll!« Sie schlug die Hände zusammen. »Dann haben wir …«
»… noch einen Gast mehr«, fiel Emma ihrer Tochter ins Wort, weil sie wusste, was sie hatte sagen wollen: …
noch eine Tante
.
Streng genommen würde Tonja keine echte Tante sein. Und Sia war eher eine Art Ururgroßmutter, aber sie waren wohl alle vier miteinander verwandt.
Wer hätte das gedacht?
Emma fand, dass es noch zu früh für die Wahrheit war. Erst sollte Sia bei ihnen sein und ihre Cousine kennenlernen. Alles andere würde sich danach ergeben. Sie wollte eine endgültige Verifizierung der Geschichte, bevor die Verwandtschaft offiziell erweitert wurde.
»Zu essen haben wir bestimmt genug. Und jetzt muss ich mir rasch was Partytaugliches anziehen.«
Verwundert schaute Elena sie an, schwieg jedoch.
Es klingelte stürmisch, eine krakeelende Kinderstimme war gedämpft aus dem Treppenhaus zu hören.
»Da sind schon die Ersten«, rief Elena begeistert und rannte hinaus in den Flur. »Ist bestimmt Üdin. Ich mach auf!«
Tonja lächelte auf eine unbestimmbare Weise, als sie sagte: »Kinder.« Das Glas Wasser, das Emma ihr hingestellt hatte, rührte sie nicht an.
Sia rannte kurz vor vierundzwanzig Uhr die Treppen nach oben, in der linken Hand eine gekühlte Flasche Sekt. Der schwarze Mantel wehte hinter ihr her.
Sie hatte sich schlicht und ergreifend zu lange im Club D.A.R.K. aufgehalten, um einen jungen Türsteherkollegen rasch einzuweisen, der für sie an diesem Abend eingesprungen war. Neben der Moritzbastei bedeutete der Club eine sichere Arbeitsstelle für sie.
Aber er war so nett und so jung gewesen, und sie hatte sich gern mit ihm beschäftigt. Dafür hatte sie dann die Geschwindigkeit der Hayabusa in der Innenstadt fast voll ausschöpfen können. Kurz vor Jahreswechsel gab es kaum Verkehr, und glücklicherweise hatte der Baubetriebshof Leipzigs Straßen mit gehörig Salz eingedeckt. Kein Eis.
Gefahrloses Rasen.
Sie musste grinsen.
Ein schöner Widerspruch.
Sie stand vor Elenas und Emmas Tür.
Der Anblick des selbstgebastelten Kranzes, der neben dem schmucklosen Türschild hing, erweckte die Vergangenheit zum Leben. Erinnerungen an den Abend, als sie in der alten Wohnung aufgetaucht war, um die beiden umzubringen, stiegen empor. Aber Elenas Augen, der Ausdruck darin, als sie Sias langen Dolch gesehen hatte, hatte sie davon abkommen lassen. Sie war sehr froh, es nicht getan zu haben. Es wäre der größte Fehler ihrer Existenz gewesen.
Ich hätte es mir nicht verzeihen können. Nicht bei ihnen.
Sia hob die Rechte, der Zeigefinger näherte sich dem Klingelknopf.
Da roch sie es.
Das lockende, geliebte Aroma kam süß unter dem Türschlitz hindurch. Es quoll aus dem Türspion, dünstete durch das Holz und waberte direkt in ihre empfindliche Nase: Auf der anderen Seite gab es Blut.
Verschiedenes Blut.
Sehr viel Blut.
Durst und Wachsamkeit erwachten schlagartig. Etwas musste in der Wohnung vorgefallen sein, was einem Massaker gleichkam.
Gott, was ist passiert?
Sias Angst um Emma und Elena drängte jeglichen hastigen Gedanken über eine Erklärung zurück. Sie stellte die Flasche ab, zog ihre Dolche und trat die Tür auf.
Im Flur herrschte fahlgelbes Licht, lediglich eine der vier Birnen brannte. Beim Zurückschwingen der Tür vernahm sie ein leises Plätschern. Die untere Kante bewegte teilweise stockendes Blut und schob es nach hinten gegen die Wand; das flüssig gebliebene Rot strömte sofort wieder nach.
Wäre der intensive, verräterische Duft nicht gewesen, so hätte Sia im Halbdunkel ebenso an frischen roten Estrich denken können. Der gesamte Flur war überzogen mit einer dünnen, leicht glänzenden Schicht. Plan breitete sie sich aus. Eine leichte Welle durchlief sie von vorn nach hinten, ausgelöst durch das brachiale Türöffnen, und
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