Judassohn
zerstörte die Illusion.
Wo kommt das alles her?
Es kostete Sia ein hohes Maß an Konzentration, sich nicht durch den Geruch ablenken zu lassen und niederzuknien, um vom Blut zu trinken. Das Verlangen danach konnte sehr, sehr intensiv und unwiderstehlich sein. Ein Preis, den sie für das ewige Leben und ihre Vampirkräfte bezahlte.
Sie hastete durch das Blut. Die Schuhspitzen wurden umspült, Tröpfchen spritzten und benetzten die Wand. Es klang, als eilte sie über eine regenüberflutete Straße. Mantel- und Hosensaum badeten im Rot.
Ihre Sinne waren hoch aufmerksam.
Wo sind sie?
Ein leises Seufzen drang aus dem Wohnzimmer.
Sie bewegte sich behutsamer, doch das Rot plätscherte leise und verriet, wohin sie ging: immer dem Strom zur Quelle folgend.
Sia sah um die Ecke in den großen Raum.
Das Gemälde eines düsteren Künstlers hätte nicht schrecklicher sein können.
Der gemütliche schwere Sessel war auf die Couch gestellt worden. Darauf saß eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren, die ihr sehr ähnlich sah. Die Kleidung hatte sich mit Blut vollgesogen und die eigentliche Farbe des Stoffs unkenntlich gemacht. Ihre aufrechte Haltung erinnerte an eine Königin, die Arme ruhten locker auf den Lehnen, und die Augen hielt sie geschlossen. Ein leichtes Lächeln lag auf ihrem blutbespritzten Gesicht. Der schwache Schein des gedimmten Deckenfluters beleuchtete sie sanft und berechnet.
Wer ist das?
Zu ihren Füßen stapelten sich die Leichen wirr durcheinander. Jüngere Männer und Frauen lagen verflochten, die Gliedmaßen ragten aus dem Knäuel heraus. Ihre Kehlen waren zerschnitten, die Wundränder allerdings leicht ausgefranst, als ob die Schneide gezackt gewesen wäre.
Alle hatten die Augen geöffnet. Sie waren nicht schnell getötet worden. Auf den verzerrten Gesichtern standen ihre erlittene Furcht und der unfassbare Schmerz. Wie viele Menschen waren um die Couch ausgebreitet? Auf der Gästeliste für die Party hatten dreißig gestanden, einige davon Kinder … Aber das hier mussten wesentlich mehr sein!
Die Fenster der Wohnung waren durch die Wärme des Blutes von innen beschlagen, der metallische Geschmack lag Sia auf der Zunge und am Gaumen.
Psychopathenwerk!
Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.
Wo sind Elena und Emma?
Sie blickte sich suchend um.
Liegen sie im Haufen?
»Diejenigen«, sagte die Unbekannte auf Englisch mit dunkler Stimme, »die du suchst, sind hier.« Sie versetzte den oberen beiden Körpern je einen Tritt, und sie rollten den kleinen Hügel hinab, landeten platschend im Blut; zu Sias Erleichterung zeigten die Hälse von Mutter und Tochter keine Verletzungen. »Noch leben sie, Theresia Sarkowitz.« Ihre Lider hatten sich nicht gehoben. »Es liegt ganz allein an dir, ob ich es ändern werde.« Das Lächeln wurde dämonischer. »Du wunderst dich?!«
Sia hatte den ersten Schock überwunden und keine Ahnung, woher die Besucherin stammte. Dem Äußeren nach konnte sie ihre Schwester sein – wenn sie eine gehabt hätte.
Sie trat ins Wohnzimmer, die Dolche kampfbereit in den Fäusten. Eine Klinge wies nach oben, die andere nach unten. Für einen Angriff war es zu früh, die Lage erschien ihr undurchsichtig.
Sia witterte. Weitere Personen oder Kreaturen hielten sich nicht in der Wohnung auf. »Wer bist du?« Langsam kam sie auf den improvisierten Thron zu. »Mach die Augen auf und erkläre, was die Inszenierung bedeuten soll!«
»Ich wollte dir einen angenehmen Empfang bereiten und dir die Möglichkeit bieten, dich zu stärken, bevor wir kämpfen«, eröffnete die Fremde mild. »Sauf vom Boden wie ein Schwein! Mehr gebührt dir nicht!«, schrie sie plötzlich auf Serbisch, und ihre Stimme klang hasserfüllt. Die Finger schlossen sich um die Lehnen und drückten fest zu; das Holz splitterte unter ihrem Griff.
»Wer bist du?«, fragte Sia erneut und warf ihren Mantel auf den Boden, ohne die Waffen aus den Händen zu legen. Sie kannte diese Sprache aus der alten Zeit, als sie noch mit Marek zu tun gehabt hatte.
Sendet er mir seine verspätete Rache?
Jetzt lachte die Unbekannte. »Solltest du dich weigern, dich mit mir zu messen, sterben die beiden hier.« Sie ließ die Lehnen langsam los, der rechte Zeigefinger wies auf Elena und Emma. »Gewinne ich, sterben sie sicherlich auch.« Sie lächelte zufrieden. »Ist das Ansporn genug für dich, Madame Charlotte Pirot?«, erkundigte sie sich auf Altfranzösisch.
Sia zuckte zusammen. »Woher … Wie darf ich diese vielen
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