Judassohn
befinden, der ausgezeichnet zu einer Endzwanzigerin wie sie passte. Er hatte ebenfalls eine kleine Tochter. Sibylle, fünf Jahre. Ein Mann mit Sorgerecht
und
Karriere, das machte bei Emma Eindruck. Patchwork lautete das Zauberwort.
Das Bad war leer.
»Wo steckst du denn?« Emma zog das Shirt und die Hose aus, die Socken folgten. Sie bekam keine Antwort. »Elena?«
Aus irgendeinem Grund wurde ihr kalt.
Das leise Quietschen sagte ihr, dass eines der Fenster offen stand und in der kalten Winterluft schwang. Oder …
Der Balkon!
»Habe ich dir nicht gesagt, dass du keine Schneebälle machen und auf die Leute auf der Straße werfen sollst?!«, rief sie und schlüpfte in den dunkelgelben Morgenmantel. Sie eilte ins Wohnzimmer, von wo aus es auf die kleine Plattform ging.
Die Tür stand offen, Fußspuren im Schnee führten zum Geländer.
Aber nicht wieder zurück …
Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt. Sie machte zwei, drei schnelle Schritte durch das Weiß, beugte sich über den Handlauf und blickte in den Hof, um das Schlimmste auszuschließen.
Der Schnee fünf Stockwerke unter ihr war unberührt. Keine kleine Gestalt mit braunen Haaren lag regungslos auf dem Boden.
Gott sei Dank!
Innerlich atmete sie auf, auch wenn das Mysterium des Verschwindens nicht gelöst war.
Sie wird in ihren eigenen Abdrücken rückwärts gelaufen sein. Wo kann sie noch stecken?
Von der schrecklichsten Vorstellung befreit, spürte sie die Dezemberkälte.Zitternd kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. »Elena?« Inzwischen rang sie mit der Verärgerung. »Elena, verflixt, wo steckst du? Komm raus! Ich finde es nicht mehr witzig.«
Es klingelte an der Tür.
Emma lief zum Eingang und blickte durch den Türspion.
Im Flur stand eine Frau in ihrem Alter mit kurzen schwarzen Haaren, die einen dunkelgrauen Wintermantel und einen blauen Schal um den Hals trug. Das Gesicht war leicht abgewandt, sie schaute zu den Türen der Nachbarn.
Wer ist das denn?
Sie hängte den Sperrbügel ein und öffnete. »Ja?«, sagte sie durch den Spalt.
»Oh, hallo.« Die Stimme war angenehm, wenn auch etwas tief für eine Frau. Ihr Deutsch hatte einen leichten Akzent; Emma meinte, etwas Britisches zu hören. Das Hallo klang mehr wie ein
hello
. »Ich suche Frau Theresia Sarkowitz.« Jetzt zeigte sie ihr Gesicht in Gänze. Es gab durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit Sia. »Eine Arbeitskollegin von ihr aus dem Krankenhaus meinte, dass ich sie hier finden könnte.«
Das klang ungewöhnlich, war aber auch nicht unwahrscheinlich. Emma wusste, dass Sia ihre Festnetznummer für Notfälle auf der Arbeit angegeben hatte. Allerdings konnte sie sich nicht daran erinnern, dass sie vom Krankenhaus jemals angerufen worden wäre. Über die Nummer war die Adresse durch minimalste Recherche herauszufinden. »Sie sind, bitte?«
Die Frau lächelte entschuldigend. »Tonja Umaschwili. Ich bin ihre Cousine aus London. Ich wollte sie überraschen. Bei ihr zu Hause war niemand.«
Überraschen ist dir auch bei mir gelungen,
dachte Emma und wusste nicht, was sie tun sollte. Sia hatte erzählt, dass sie keinerlei Verwandte mehr besaß. Außerdem war da noch ihre verschwundene Tochter, die sie suchen musste.
Schlechtes Timing.
»Von einer Cousine weiß ich gar nichts.«
»Sie kennt mich nicht. Noch nicht.« Tonja bemerkte offenbarihre Unentschlossenheit. »Verzeihen Sie, dass ich Sie einfach so überfalle. Ich wäre an Ihrer Stelle auch misstrauisch.« Sie hob eine Plastiktüte. »Hier. Nehmen Sie das Geschenk, das ich für Sia gekauft habe, und sagen Sie ihr bitte …«
Was soll’s. Das kann sie klären, wenn Sia da ist.
»Warten Sie.« Emma schloss die Tür, hängte den Sicherungsbügel aus und machte ihr auf. »Kommen Sie rein«, bat sie zerstreut und richtete den Bademantel. »Ich muss mich entschuldigen. Wir stecken mitten in der Vorbereitung für eine Silvesterparty, und anscheinend«, sie hob die Stimme und schaute über die Schulter, »will mich meine liebe Tochter zu einem ungünstigen Moment auf den Arm nehmen. Das kostet sie einen Monat Taschengeldsperre, wenn sie nicht gleich erscheint.« Dann blickte sie wieder nach vorne.
Tonja wirkte jetzt nachdenklich. »Ein kleines Mädchen? Mit braunen Zöpfen und einem Pony?«
»Ja!«
»Sie ist eben an mir vorbeigerannt und den Flur hinuntergelaufen. Ich glaube, sie ist nach rechts abgebogen.«
»Dieses Kind! Was macht es denn nun schon wieder?« Emma schlüpfte in ihre Schuhe, warf sich den Mantel über und rannte das
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