Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
VERMUTUNG als TATSACHE in den Raum: DASS MAN MIR GAR NICHT HELFEN WOLLE . Reine Vermutung zum jetzigen Zeitpunkt, zugegeben. Aber auch Vermutungen sind ja nicht aus der Luft gegriffen. Anhaltspunkte müssen da sein. Anhaltspunkte waren die Therapie selber, wo man mir sagte, sie sei nicht, ausdrücklich nicht heilungsgerichtet.
Das ewige «Aus der Presse raus», so oft wiederholt, ist verdächtig. (Wer total aus der Presse raus ist, kann auch bis zum Tode aufs Abstellgleis geschoben werden. Das ist von FACHLEUTEN GESAGT worden. (Gutachten der Kastrationskommission: «… und der Patient wegen seiner … Gefährlichkeit bis zum Tod verwahrt werden müßte …») Noch mehr ist die Aufregung, die mein oft (nicht grundlos, siehe Zitat) geäußerter Verdacht auslöste, verdächtig. Warum regt man sich auf, wenn es tatsächlich Äußerungen gibt, die sich auf bei NICH T-Kastration lebenslange Verwahrung beziehen?
Auf Grund der Äußerungen habe ich RECHT zum Verdacht. Trotzdem: unsere Psychologin regte sich über meinen Verdacht auf, für den echte Gründe vorlagen, den ich aber nicht beweisen konnte, noch kann (ich werde es logischerweise BA LD können), so sehr, daß sie die Therapie abrupt abbrach. Die seelischen Folgen für MICH sind offensichtlich nicht bedacht worden. Regt man sich aber derart auf, ist daraus nicht UNSICHERHEIT zu folgern? Das hieße, daß ich (leider) recht haben könnte … Mein Vorwurf, daß es keinen echten Hilfswillen gebe, wird wahrer, JE LÄNGER NICHTS GESCHIEHT!! Oder ist das auch wieder falsch? …
Denkst Du, alter Kumpel, nicht ungefähr so wie ich? Bossi schrieb mir heute einen Brief. Die Situation scheine «ohne einen Schimmer auf Hoffnung». Was er noch nie tat … Er ist nun auch soweit, mir die Kastration zu empfehlen … ALEA JACTA EST.
Mein Trost, dear Paule, ist Gisela vor allem. Unsere Liebe läßt uns leben. Unsere Zuneigung wird stärker, anstatt schwächer. Jede Woche kommt sie. Manchmal zweimal. Sie nimmt vielmehr Entbehrungen auf sich als ich. Wie groß muß ihre Liebe sein … Sie liest mir Bedürfnisse oder Wünsche von den Augen ab. Sie beschämt mich … Wie sehr sie darunter leidet, beim Kastrationsverfahren als Faktum total UNTERSCHLAGEN worden zu sein (beim Gutachten der Kommission z. B.), weiß nur sie allein … Sie paßt nicht ins SCHEMA. Sie wird infolgedessen «DEMATERIALISIERT» …
Und ich kann nur hoffen, bald «wallachisiert» ZU WERDEN. (Ruhiger werden nach Kastration. Ärztlicher Fach-Terminus.) VAE VICTIS!
Schreiben. Ich bin noch nicht fertig, ganz, alter Kumpel. Ich beabsichtige, Dir, wenn es soweit ist, das Manuskript zu geben, zum Lesen und für eine «Meinungsäußerung». Dies Manuskript hat mit Schreiben in der Form des anderen Patienten (Anfang des heutigen Riesen-Briefes) nichts zu tun. Obwohl man mir, wie so oft, auch da wieder Unrecht tun wird. (Du hast Recht, ich tue mir da «ganz schrecklich leid».) EINE Seite über Heilanstalt. Nur EINE Gefängnis-Story. Alles andere ist gewürfelt wie Gulasch. Wirtschaftskrise, Kriminalerzählung, zwei Gedichte, zwei Seiten behindertes Kind, Kindesmißhandlung, Jugendamt, Dirne, usw., usw. Ein gewolltes Durcheinander. Es könnte sogar gut sein.
[Jürgen hatte wohl wenige Gründe, um weiterzuleben, doch viele, um sterben zu wollen. Ein prominenter Psychoanalytiker, Martin Grotjahn, hat mir einmal gesagt, der Mensch sterbe, wenn sein Unbewußtes zu sterben bereit sei. Jürgen war schon eine Woche tot, als ich in Mississippi seinen letzten, gespenstischen Gruß an mich las, den Abschiedsgruß der Gladiatoren an den römischen Kaiser.]
Nun aber Schluß für heute, alter Freund. Hoffentlich wird Dein nächster Brief auch so lang.
MORITURI TE SALUTANT!
Und, nichts für ungut (Trinkspruch der Mediziner):
«PROSTATA, MEINE HERNIEN! ES WAR EIN PHIMOSES FEST!»
(Nichts für UNGUT – ein echt germanisches Unsinnswort … Für UNGUT bekommt man ergo nichts. Aber was bekommt man für GUT? Na, egal, jedenfalls NICHTS FÜR GUT.)
DEIN alter Jürgen
23 Nachspiel
Als Jürgen Bartsch merkte, daß die Besserung auf sich warten ließ, d. h., daß ihm eine Psychotherapie nicht zuteil wurde, bat er um die Durchführung der Kastration, also um Entfernung beider Hoden. Bei diesem Eingriff ist er im April 1976 gestorben. Er ließ die Operation bei sich durchführen, weil er hoffte, auf diese Weise die Freiheit wieder zu erlangen; er wollte sich vom
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