Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
4. Dezember, kam ich hinzu. Um die Zeitlücke von anderthalb Jahren zwischen seiner Verhaftung und seinem ersten Brief an mich zu füllen, habe ich aus verschiedenen Quellen Material gesammelt, das unmittelbar mit Jürgen Bartsch zu tun hat.
Am linken und unteren Rande einer vergilbten Fotokopie seiner Geburtsurkunde (Nr. 882, vom 8. November 1946) sieht man eine Menge Hinzugekritzeltes, mitunter den Namen Bartsch; hier ging es offensichtlich um seine Adoption. Da liest man:
Die Elisabeth Anna Sadrozinski geborene Liedtke
wohnhaft in Essen, bei ihrem Ehemann
Ehefrau des Bergmanns Friedrich Sadrozinski
wohnhaft in Essen, Katernberger Straße 315
hat am 6. November 1946 um 9 Uhr 50 Minuten
zu Essen, in den Städtischen Krankenanstalten
einen Knaben geboren. Das Kind hat die Vornamen erhalten:
Karl Heinz.
Der Standesbeamte
In Vertretung: [Unterschrift unleserlich]
Eheschließung der Eltern am 8. 5. 1943 in Essen
Standesamt Essen-Stoppenberg Nr. 140/1943
Buchstäblich schon im Augenblick seiner Geburt befand sich Jürgen Bartsch in einem pathologischen Milieu: Er wurde sofort nach der Entbindung von seiner tuberkulösen Mutter, die wenige Wochen später starb, getrennt. Eine Ersatzmutter für das Baby gab es nicht. In Essen, noch 1971 im Dienst auf der Wöchnerinnenstation, fand ich Schwester Anni, die das Kleinkind noch deutlich in Erinnerung hatte:
«Es war so ungewöhnlich, Kinder mehr als zwei Monate im Krankenhaus zu behalten. Jürgen blieb aber elf Monate bei uns.» Seit Sigmund Freud, und besonders seit René A. Spitz, weiß die moderne Psychologie, daß das erste Jahr im Leben eines Menschen für seine Entwicklung mit Abstand das allerwichtigste ist: Mütterliche Wärme und körperlicher Kontakt haben einen unersetzlichen Wert für die spätere Entwicklung des Kleinkindes. Am 21. Juli 1969 schrieb mir Jürgen im Alter von zweiundzwanzig Jahren: «Wenn ich Krankenhaus-Luft rieche, wird mir sofort schlecht, und ich muß mich hinlegen. Vielleicht hat das ein wenig zu tun damit, daß ich über ein Jahr ‹von Anfang an› im Krankenhaus gelebt habe.»
Aber schon in der Krankenhauskrippe begann die ökonomische und soziale Einstellung der späteren Adoptiveltern das Leben des Babys zu bestimmen. Schwester Anni erzählte mir: «Frau Bartsch hat extra bezahlt, damit er hier bei uns bleiben konnte. Sie und ihr Mann wollten ihn adoptieren, aber die Behörden zögerten, weil sie Bedenken über die Herkunft des Kindes hatten. Wie er war auch seine Mutter außerehelich geboren. Siehatte auch eine Zeitlang bei der Fürsorgeerziehung verbracht. Man wußte nicht genau, wer der Vater war. Normalerweise schickten wir elternlose Kinder nach einer gewissen Zeit auf eine andere Station, aber Frau Bartsch wollte das nicht zulassen. Auf der anderen Station gab es ja alle möglichen Kinder, auch von asozialen Eltern.»
«Ich erinnere mich noch heute, was das Kind für strahlende Augen hatte! Er lächelte sehr früh, verfolgte, hob das Köpfchen, alles sehr, sehr früh. Einmal entdeckte er, daß die Schwester kommen würde, wenn er auf einen Knopf drückte, und das machte ihm großen Spaß. Er hatte damals keine Eßschwierigkeiten. Er war ein völlig normales, gediegenes, ansprechbares Kind.»
Andererseits aber tauchten pathologisch frühe Entwicklungen auf. Die Schwestern auf der Station mußten Ausnahmemethoden erfinden, da ein so großes Kind auf der Entbindungsstation eine Ausnahme bildete. Zu meinem Erstaunen hörte ich, daß die Schwestern das Baby schon mit weniger als elf Monaten «sauber» gekriegt hatten. Schwester Anni fand mein Erstaunen offensichtlich merkwürdig. «Vergessen Sie nicht, wie das damals war, nur ein Jahr nach einem verlorenen Krieg. Es gab überhaupt keinen Schichtwechsel für uns.» Meine Frage, wie sie und ihre Kolleginnen das geschafft hätten, beantwortete Schwester Anni ein bißchen ungeduldig: «Wir haben ihn einfach auf das Töpfchen gesetzt. Das fing mit sechs oder sieben Monaten an. Wir hatten Kinder hier im Krankenhaus, die schon mit elf Monaten laufen konnten, und auch die waren schon fast ‹sauber›.» Unter den gegebenen Umständen wird man nicht von einer deutschen Krankenschwester jener Generation, nicht einmal von einer so gutherzigen Frau wie Schwester Anni, aufgeklärte Kindererziehungsmethoden erwarten dürfen: Die Nazis hatten ja solche angeblich verweichlichenden Methoden aus Deutschland verbannt.
Es besteht kein Zweifel,
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