Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Sachkenntnis.
Im Bonner Hauptbüro von Time & Life arbeiteten mehrere Kollegen, die für das Bundesgebiet verantwortlich waren, aber nach reiflicherer Überlegung habe ich doch den dortigen Chef Hermann Nickel angerufen und mich angestrengt, ihn davon zu überzeugen, daß der Prozeß in Wuppertal eine psychologische und soziologische Fundgrube werden würde und daß er diesen Auftrag mir zuteilen solle. Er erklärte mir, die wöchentliche Nachrichtenkonferenz habe gerade am Vortag in New York stattgefunden; wir müßten nun also die sechs Tage bis zur nächsten Redaktionskonferenz abwarten.
Das Gericht in Wuppertal tagte in Sachen Bartsch nur montags, mittwochs und freitags und hatte an einem Mittwoch angefangen. Ich mußte also nicht einen, sondern zwei Tage warten, ehe die Berichte über den zweiten Prozeßtag erschienen. Sie waren vielleicht noch ausführlicher als die ersten; je mehr der Angeklagte erzählte, desto ungeheuerlicher und unglaublicher wurde seine Geschichte. Ich habe Hermann Nickel noch einmal angerufen und gesagt, dieser Stoff sei einfach zu wertvoll, um auf eine Entscheidung aus New York zu warten. Ich hatte schon die Aussagen von zwei unersetzlichen Tagen versäumt; um nicht noch mehr zuverpassen, würde ich auch ohne Auftrag nach Wuppertal fahren. So geschah es, daß ich – als einziger Ausländer, soviel ich merkte – dem Prozeß in Wuppertal vom dritten Verhandlungstag an beiwohnte und mir darüber umfassende Notizen machte.
Fast alle Sitzungen des Prozesses fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt; bei einer Sitzung mußten auch wir Presseleute, auf Antrag des Angeklagten, den Saal verlassen. Am Tage meiner Ankunft in Wuppertal hatte ich mich dem Gerichtsvorsitzenden Dr. Walter Wülfing persönlich vorstellen müssen, um meine Zulassung zum Prozeß zu bekommen. Ziemlich bald lernte ich auch den Verteidiger Heinz Möller und seinen Referendar Hartwig Kolbe kennen. Ein Ortskundiger erzählte mir, Gerhard Bartsch, Jürgens Vater, sei mit den Problemen seines Sohnes zu Rechtsanwalt Möller gegangen, weil der ihn in irgendeiner kleinen Verkehrsangelegenheit schon einmal vertreten hatte. Nicht nur Heinz Möller – ein kluger, gutherziger, gewissenhafter, sympathischer Anwalt, Familienvater mit vier Kindern, absolut ohne jegliche Erfahrung in solchen Alpträumen wie dem Fall Bartsch – war durch diesen Prozeß überfordert. Ich glaube, ich war der erste, der ihm vorschlug, als zusätzlichen Gutachter einen Psychoanalytiker beizuziehen. Er stellte zwar einen entsprechenden Antrag (es handelte sich um den damals bekanntesten Analytiker in Deutschland, Alexander Mitscherlich), aber das Gericht lehnte diesen – wie so viele Anträge der Verteidigung – schroff ab.
Irgendwann im Laufe des Prozesses wurde ich plötzlich, völlig ohne Vorwarnung, selber zum Teilnehmer. Heinz Möller hatte eine einschlägige wissenschaftliche Arbeit in englischer Sprache gefunden und versuchte sie, mit hörbarer Mühe, vorzulesen. Mit einer dramatischen Handbewegung rief der Vorsitzende: «Halt! Wir haben ja einen Amerikaner unter uns. Bitte, Mister Moor!» Ein anderer Richter erinnerte den Vorsitzenden daran, daß ich zunächst als Gerichtsdolmetscher vereidigt werden müßte. Ehe ich wirklich wußte, was los war, stand ich da unten neben Heinz Möller, und jeder Anwesende – auch der Angeklagte, natürlich – musterte den Exoten. So kam es, daß Jürgen Bartsch, als ich ihmeinige Wochen später meinen ersten Brief schickte, wenigstens einen visuellen Eindruck von mir hatte.
Am 15. Dezember 1967 ging der Prozeß nach zwei dramatischen Wochen zu Ende. Kurz zuvor hatte ich Heinz Möller gebeten, seinem Mandanten zu sagen, ich sei daran interessiert, ein ganzes Buch über ihn und diesen Prozeß zu schreiben. Als ich das Gericht um die Genehmigung ersuchte, den verurteilten Jürgen Bartsch zu interviewen, hat der Gerichtsvorsitzende Dr. Wülfing abgelehnt.
Meine eigenen Briefe an Jürgen Bartsch habe ich leider nicht aufgehoben – damals hatte ich nicht daran gedacht, daß das Interesse für den «Fall Bartsch» bis zum heutigen Tage andauern würde –, aber der erste Brief, den ich von ihm erhielt, trägt das Datum 23. Januar 1968 und fängt an: «Lieber Herr Moor! Zuerst einmal den allerherzlichsten Dank für Ihre liebe Karte vom 9. 1. 68 und auch für das Weihnachtstelegramm vom 24. 12. 67, daß [sic] 1 mir sehr viel Freude gemacht hat.» Damals konnte ich nicht ahnen, was
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