Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Übertreibungen die starrsinnige Verbohrtheit mancher Rechtsbrecher. Der Eigensinn des analen Charakters steigert sich bei den meisten Kriminellen zu selbstherrlichem, unzugänglichem Trotz gegenüber der gesamten Menschheit.»
Schon in Jürgens ersten Briefen an seinen Verteidiger Heinz Möller findet man einen ganzen Schwall bedeutungsvollen Materials. Möller erzählte mir einmal, es sei ihm – dem Vater von vier Kindern – nicht leichtgefallen, einen solchen Mandanten zu verteidigen («Die Entscheidung hat mich auch manche Träne gekostet»), aber mit der Zeit entwickelte sich zwischen ihm und Jürgen eine ungezwungene, starke Bindung. Jürgen mochte ihn und betrachtete ihn als zuverlässigen Freund. Zu Beginn des Prozesses haben es einige Reporter als Verteidigungstaktik gemeldet, daß Möller seinen Mandanten mit dem Vornamen ansprach und ihn duzte. In der Tat war es ein authentisches Zeichen der Unreife des Neunzehnjährigen, daß er innerhalb der ersten Minuten seinen Anwalt gebeten hatte, ihn zu duzen. Am 2. Juli 1967 hat er in einem Brief an Möller erwähnt, daß sogar der Staatsanwalt Körner ihn duzte. In Möller fand Jürgen endlich, nach so vielen Jahren, einen sympathischen Freund, dem er alles, ohne Vorbehalt, erzählen konnte.
Am 14. September 1966 erhielt Heinz Möller den ersten Brief von Jürgen. Er schrieb äußerst sorgfältig, in einer auffallend «korrekten» Schuljungenhandschrift, wesentlich größer als in den späteren Briefen an mich, und die vielen Ausrufezeichen verkünden seinen inneren Zustand.
Schon in diesem ersten Brief kommen mehrere wichtige Themen zum Vorschein, die man aber zum damaligen Zeitpunkt, da sie von einem geständigen vierfachen Kindermörder kamen, äußerst skeptisch betrachtete. Ohne die Tatsachen zu kennen, haben ihn viele Zeitungsleser als «undankbares Kind» abgetan. Das wichtigste Thema aber findet man in der Behauptung, dieJürgen noch oft wiederholen wird, daß seine Eltern – egal, wie sie ihn behandelten, egal, was sie ihm antaten – ihn trotzdem liebten. Schon in den ersten Sätzen des allerersten Briefes sagt er, wie sehr seine Eltern ihn lieben, obwohl sie das «nicht zeigen können».
Viele neurotische Kinder können sich buchstäblich nicht vorstellen, daß ihre Eltern sie nicht lieben, denn ein Kind kann nicht begreifen, daß in materiellen Aufmerksamkeiten, und seien sie noch so üppig, nicht Liebe zum Ausdruck kommt, sondern oftmals gerade der Mangel an Liebe in der Gestalt von Schuldgefühlen. Fast jedes Kind, auch das mißhandelte, findet es schier unmöglich, die Tatsache anzuerkennen, daß seine Eltern es nicht lieben. Die bloße Möglichkeit erschreckt so tief, daß Kinder sie energisch ablehnen, weil sie einfach nicht wahr sein darf. Für ein Kind ist das ja das Furchtbarste, was es auf der Welt geben kann, und in jeder Lebenslage, auch in der schlimmsten, muß das Kind, um zu überleben, mit halbwegs plausiblen Erklärungen sich vom Gegenteil überzeugen, um diese schrecklichste und unerträglichste aller Wahrheiten abzuwehren.
Wuppertal, Sept. 1966
Lieber Herr Möller!
Da ich nun Ihre Adresse habe, kann ich mich endlich einmal dazu aufraffen, Ihnen zu schreiben!
Wie ich es mir dachte (wir sprachen auch schon andeutungsweise darüber), sagten meine Eltern, sie hätten alles für mich getan. Dies gilt allerdings nur für die materielle Seite, das muß ich sagen, wenn ich ganz ehrlich sein will! Das soll nun wiederum nicht heißen, daß meine Eltern mich nicht geliebt hätten. Denn dann wäre ihre jetzige Haltung vollkommen unsinnig. Nur eines ist eine unumgängliche Tatsache:
«Es ist mir nicht bewiesen, bzw. gezeigt worden».
Nun weiß ich sehr gut, daß Sympathie, wenn sie übermäßig zur Schau getragen wird, sehr affig, ja peinlich wirkt. Doch wäre das«zuviel» trotzdem das kleinere Übel gewesen! Das «zuwenig», oder «überhaupt nicht», ist viel schlimmer! Ich muß es Ihnen einmal ganz deutlich sagen: Ein Filmapparat, ein Radio, Plattenspieler, viele Bücher, kostspielige Geschenke zum Geburtstag oder zu Weihnachten, Fahrrad usw., sind allein noch keine Liebe! Das Gefühl einer Zuneigung, das man für jemand empfindet, kann man nicht allein auf derartige «Zuwendungen» abwälzen. Das soll kein Undank sein, sondern nur eine nüchterne Feststellung! Liebe will erkannt sein.
Sie will ausgedrückt sein in ein paar guten, lieben Worten und Gesten. Diese einzigen, wirklichen Beweise habe ich bei
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