Julia Aerzte zum Verlieben Band 60
den Bauch. „Ich möchte keinen Ultraschall.“
Sie wollte sich das Baby nicht ansehen. Noch nicht. Für sie war es bereits ein großer Schritt, jemandem die Schwangerschaft einzugestehen. Mehr schaffte sie heute nicht.
Marco wunderte sich wahrscheinlich.
„Entschuldige …“, begann sie. „Du bist sicher andere Reaktionen gewohnt.“ Sie konnte ihren Widerstand nicht einmal erklären, sie wusste nur, dass sie ihr Kind noch nicht sehen wollte.
Marco stellte das Gerät ab und sah sie an. „Evie, du hast zu lange gewartet. Es ist zu spät, um … noch etwas zu unternehmen.“
Sie setzte sich auf. Zwar hatte sie daran gedacht, dass sie die Schwangerschaft abbrechen könnte, den Gedanken aber wie alles, was mit ihrem Zustand zu tun hatte, schnell wieder von sich geschoben. „Ich weiß. Will ich ja auch nicht.“
Halt, stopp, wo kommt das auf einmal her?
Plötzlich wusste sie, dass sie dieses Baby liebte, mit derselben unumstößlichen Sicherheit, wie sie es auch bei Finn gewusst hatte. Einfach so. Ohne Wenn und Aber.
Finn mochte ihre Liebe nicht wollen, doch zwischen sich und sein Kind würde sie nichts kommen lassen. Niemals.
Evie lächelte schief. „Tut mir leid, aber ich glaube, ich habe die Schwangerschaft nicht wahrhaben wollen – bis vor ein paar Tagen, als es sich das erste Mal bewegt hat. Ich versuche immer noch, das alles … zu verarbeiten.“
„Schon gut.“ Er erwiderte ihr Lächeln. „Also eins nach dem anderen. Wie wäre es, wenn wir uns seinen Herzschlag anhören und ich dir danach ein bisschen Blut abnehme?“
Sie nickte und legte sich wieder hin. Sekunden später lauschte sie dem stetigen Pochen eines winzigen Herzens. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Da ist wirklich ein Baby drin.“
Marco lächelte sie sanft an. „Dein Baby.“
Evie schloss die Augen. Finns Baby.
Finn Kennedy lehnte sich im Liegestuhl bequem zurück und genoss im Schatten der breiten Veranda den großartigen Ausblick auf den Pazifik. Es gefiel ihm hier, in dem verwinkelten alten Haus hoch oben auf einer Klippe über dem Ozean. Tiefblaues Meer erstreckte sich bis zum Horizont, und an den Felsen unter ihm brach sich weiß schäumend die Brandung.
Ihm gefiel auch die Ruhe. Zu lange hatte er versucht, den Schmerz zu betäuben – mit Arbeit, mit Whisky. Hatte sich bis an seine Grenzen getrieben, um zu vergessen.
Wer hätte gedacht, dass Stillstand und Nichtstun viel besser wirkten?
Zwar war er nicht völlig untätig gewesen. Seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung, die er sich bei dem harten Training in den letzten fünf Monaten tagtäglich auferlegt hatte. Aber es war ein gutes Gefühl. Finn fühlte sich fit und so klar im Kopf wie seit langer Zeit nicht mehr.
Er ballte die rechte Hand zur Faust, entspannte die Finger wieder, presste Daumen und Zeigefinger zusammen, dann Mittelfinger und Daumen und brachte der Reihe nach alle Finger in Kontakt mit der Daumenkuppe. Finn wiederholte die Übung mühelos. Kaum zu glauben, dass er sich schon fast damit abgefunden hatte, die Finger nie wieder richtig benutzen zu können.
„Sieht gut aus.“
Finn sah auf, als Ethan Carter zu ihm kam, mit dem er vor zehn Jahren im Mittleren Osten gewesen war. „Ich bezweifle, dass ich in meinem Leben jemals wieder Marmeladengläser aufdrehen kann.“
Ethan zuckte mit den Schultern und reichte ihm ein Bier. „Dann lass es bleiben.“
Die Bemerkung war typisch für Ethan. Der Mann lebte Gelassenheit wie ein buddhistischer Mönch. Beim Militär war er Hubschrauberpilot gewesen. Nach seinem Ausscheiden aus der Armee hatte er Psychologie studiert und Beach Haven gegründet: einen exklusiven Rückzugsort für traumatisierte Soldaten, fünfhundert Kilometer nördlich von Sydney, wo sie sich ausruhen, sich erholen, Kraft tanken und neue Perspektiven für ihr Leben entwickeln konnten. Vom Staat nur mäßig unterstützt, arbeitete Ethan beharrlich dafür, die großzügigen Sponsoren bei der Stange zu halten, die den Aufbau von Beach Haven ermöglicht hatten.
Schweigend tranken die beiden Männer ihr Bier, den Blick auf den weiten Ozean gerichtet.
„Es wird Zeit, Finn“, sagte Ethan schließlich.
Finn sah Ethan nicht an. Erst nach einer Weile antwortete er: „Ich bin noch nicht so weit.“
Bevor er nach Beach Haven gekommen war, hatte er gedacht, dass ein Alltag fernab vom Sydney Harbour Hospital, vom OP-Tisch, für ihn schlimmer wäre als der Tod. Inzwischen war er nicht mehr so sicher, ob er überhaupt jemals
Weitere Kostenlose Bücher