JULIA COLLECTION Band 14
würde. Das musste sie auch unbedingt, denn falls es ihr nicht gelang zu beweisen, was für ein übler Gangster Ethan Zorn war, konnte ihre Familie alles verlieren.
Sie näherte sich einem offenen Fenster, aus dem Musik drang. Es waren die „Brandenburgischen Konzerte“. Da Musik ihr Nebenfach auf dem College gewesen war, hätte sie die wilde, tosende Komposition überall erkannt. Natürlich hatten solche Studien ihr bei ihrer Journalistenkarriere nicht weitergeholfen. Schließlich arbeitete sie noch immer für den „Endicott Examiner“ und hatte selbst dort noch immer keine Titelgeschichte veröffentlichen können. Nicht dass es so schlecht war, für die Berichterstattung über Kriminalfälle zuständig zu sein. Immerhin hatte sie Kriminalreporterin werden wollen. Sie wünschte nur, es gebe in Endicott irgendwelche Verbrechen, über die sie schreiben könnte. Das würde ihre Arbeit bedeutend interessanter machen.
Nicht zum ersten Mal hoffte sie, dass die heutige Eskapade ihr eine richtig gute Story brachte, abgesehen davon, dass sie damit ihrer Familie half. Dann würde Marlene, die Herausgeberin des „Examiner“, Angies journalistische Integrität und ihren Mut belohnen müssen. Vielleicht würde die Story sogar von einer Presseagentur an andere Zeitungen verkauft werden. In ihrer Fantasie sah sie ihren Namen bereits auf der Titelseite der „New York Times“.
Natürlich wüsste die Mafia dann, wo sie zu finden war. Das führte sie einen Moment lang zu der Überlegung, ob sie wirklich das Richtige tat. Plötzlich endete die Musik, sodass Angie keine Zeit mehr zum Nachdenken blieb. Sie hielt sich im Schatten der kühlen Backsteinmauer und bemühte sich, nicht in Panik zu geraten. Ethan Zorn war schließlich nicht in der Stadt. Das wusste sie, weil sie ihre Freundin Rosemary angerufen hatte, die im Reisebüro arbeitete. Durch sie hatte Angie Zorns Reisepläne erfahren. Also musste die Haushälterin die Musik abgestellt haben.
Angie wagte einen Blick durch das Fenster im Erdgeschoss und entdeckte die weißhaarige, sanftmütige Mrs. MacNamara, die an den Knöpfen der Stereoanlage drehte. Gute drei Minuten beschäftigte sie sich damit, bis sie den Rocksender des Kommunikationskurses der örtlichen Highschool fand. Hämmernde Rockklänge dröhnten aus der Anlage, und Mrs. MacNamara kehrte zufrieden zu ihrem Sessel neben dem Klavier zurück, wo sie sich wieder ihrer Strickarbeit widmete.
Das ist der verdammte Komet, dachte Angie und schüttelte erstaunt den Kopf. In anderthalb Wochen würde er direkt über Endicott hinwegfliegen, und es hieß allgemein, dass er die Menschen dazu brachte, Dinge zu tun, auf die sie gewöhnlich niemals verfallen würden. Wie zum Beispiel in ein Haus einzubrechen, dachte sie und bückte sich, um auf allen vieren unter dem offenen Fenster entlangzukriechen. Oder die Wut eines bösartigen Killers wie Ethan Zorn auf sich zu ziehen.
Eigentlich wusste sie gar nicht genau, ob Ethan Zorn schon jemanden umgebracht hatte. Aufgrund seiner Arbeit nahm sie es einfach an. Mafiosi brachten schließlich dauernd Leute um, oder? Sie waren für ihre Grausamkeit berüchtigt und schreckten vor nichts zurück. Bis vor Kurzem hatte es in Endicott noch keine Mafia gegeben. Bis Mr. Zorn aufgetaucht war. Und jetzt kursierten hier Gerüchte über kriminelle Aktivitäten. Angie wünschte nur, sie wüsste genau, worum es sich im Einzelnen handelte.
Leise bewegte sie sich weiter, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Mrs. MacNamara die einzige Person im Haus war, schlich sie zurück unter das angebliche Schlafzimmerfenster im ersten Stock. Bei Tageslicht hatte es gar nicht so hoch ausgesehen. Doch als sie jetzt in der Dunkelheit hinaufsah, schien es eine ziemliche Kletterpartie zu werden.
Angie holte tief Luft. Ihr blieb keine andere Wahl. Außerdem führte die Regenrinne so nah am Fenster vorbei, dass sie unmöglich widerstehen konnte. Sie packte das Metallrohr mit einer Hand, die in einem schwarzen Lederhandschuh steckte, schob die Schuhspitze in den breiten Fugenzwischenraum der Mauer und zog sich hoch. Langsam und sicher kletterte sie so die Backsteinfassade hinauf. Sie fühlte sich richtig großartig, wie eine Superheldin aus einem Comic.
Erst als sie das Schlafzimmerfenster erreichte, geriet sie in Panik. Denn insgeheim hatte sie gehofft, dass das Fenster verschlossen war, damit sie die ganze verrückte Aktion guten Gewissens abbrechen und nach Hause gehen konnte. Unglücklicherweise aber
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