JULIA EXTRA BAND 0272
Familie aufgeben? Auch zwei Menschen bildeten bereits eine Familie. Nein, sie wünschte sich eine größere. Allerdings bekam man im Leben nicht immer das, was man gern hätte. Tante Sally war das beste Beispiel. Ihr Verlobter war während des Zweiten Weltkriegs in der Normandie gefallen, und sie hatte nie mehr eine andere Liebe gefunden.
Cath schauderte. Was war, wenn es ihr genauso erging? Durfte sie das wegwerfen, was sie hatte, in der unbestimmten Hoffnung auf ein neues Glück? Diese Frage hatte sie sich in den letzten Monaten immer wieder gestellt und schließlich auch beantwortet. Aber die gemeinsamen Tage mit Jake änderten alles.
„Cath!“, hörte sie draußen jemanden rufen.
Sie erhob sich und öffnete die Hintertür. Mrs. Watsons Neffe lief am James River entlang in Richtung des McDonald-Hauses. „Bart?“
„Holen Sie Decken, und folgen Sie mir. Jake ist in den Fluss gefallen. Ich hoffe, dass ich ihn an dem Steg weiter unten herausziehen kann.“
Zu Tode erschrocken, stand sie einen Moment reglos da. Er konnte in dem eiskalten Wasser erfrieren!
„Alarmieren Sie die Rettungssanitäter, Cath!“ Pearl eilte ihrem Neffen mit zwei Decken unterm Arm hinterher. „Wir konnten ihm nicht helfen. Die Uferböschung ist zu steil und wegen des tauenden Schnees zu glatt.“
Cath drehte sich auf dem Absatz um. Nein, Jake durfte nicht sterben! Er hatte von Kriegsschauplätzen und aus Katastrophengebieten berichtet und konnte jetzt unmöglichhier vor ihrer Haustür umkommen! Sie wählte die Nummer des Notrufs, meldete das Unglück, und man versicherte ihr, dass eine Ambulanz sofort zu ihnen losgeschickt werden würde.
Eilig schlüpfte sie in ihre Jacke, ergriff die nächstbeste Wolldecke und rannte hinter Bart und Pearl her, während sie im Geist wieder und wieder die Worte hörte: dass ich einmal in meinem Leben um meiner selbst willen geliebt würde . Sie wollte Jake um seinetwillen. Und ihretwegen. Sie liebte ihn . So glühend und aus tiefster Seele, dass es ihr Angst machte – und ihrem Dasein Sinn verlieh. Daran würde sich nie etwas ändern. Wie hatte sie je etwas anderes glauben können?
Zweimal rutschte sie auf dem matschigen Boden aus und stürzte, schrammte sich dabei eine Hand auf und verschmutzte ihre Jeans, schützte die Decke aber nach besten Kräften vor der Nässe. Sofort rappelte sie sich wieder hoch und stürmte vorwärts. Sie musste unbedingt zu Jake, um ihm zu sagen, dass er alles war, was sie bis ans Ende ihrer Tage wollte. Ihre einzige Liebe durfte nicht sterben.
Wie lange konnte man in dem eisigen Wasser überleben? Würde es ihm gelingen, sich an einem der Pfähle festzuhalten? Sie sah Pearl am Ufer stehen, während Bart vorne auf dem etwa sechs Meter langen Steg wartete. Atemlos beobachtete sie, wie Jake dort ankam, konnte jedoch nicht erkennen, ob er sich an der Holzkonstruktion festklammerte oder die Strömung ihn dagegen drückte.
Bart kämpfte darum, ihn herauszuziehen – und schaffte es. Nur Momente später lagen beide auf den Planken. Cath eilte an Pearl vorbei und auf die zwei Männer zu, während Bart sich aufsetzte. „Sind Sie okay?“ Vorsichtig drehte er Jake auf den Rücken.
Er blutete an der Stirn, hatte die Augen geschlossen, und seine Lippen waren blau. Aber er atmete, wie Cath erleichtert feststellte. Sie faltete die Decke auseinander und hüllte ihn bestmöglich darin ein. Er fühlte sich schrecklich kalt an.
„Jake, sag etwas“, bat sie verzweifelt, während sie dicht an ihn heranrückte, um ihn mit ihrem Körper zu wärmen. „Bist du in Ordnung?“
„Hier sind noch zwei Decken“, sagte Pearl. „Was ist mit dir,Bart? Bist du trocken genug, oder brauchst du auch eine?“
„Meine Jeans sind nass, doch das ist für ein Weilchen nicht tragisch. Wir müssen Jake dringend warm kriegen.“
Cath versuchte es, indem sie erst sein Gesicht rieb, dann seine Hände. „Warum redet er nicht?“
„Er hat sich den Kopf angeschlagen, als er sich an einem Pfahl festhalten wollte. Bis dahin schien er so weit okay“, erklärte Bart. „Wie gut, dass ich ihn in den Fluss habe fallen sehen. In dem eisigen Wasser kann man schnell erfrieren.“
Sie wickelten ihn in die Decken, ohne dass er im Geringsten mithalf. Dann presste sich Cath gegen ihn. „Er wird wieder in Ordnung kommen, oder?“, fragte sie voller Angst. Er lag so reglos da, und seine Lippen waren noch immer blau.
In der Ferne ertönte das Martinshorn.
„Ich werde die Sanitäter hierherdirigieren.“
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