Julia Extra Band 0328
„Ich werde nach Hause zurückkehren.“
Als er die Eingangstür der Suite erreicht hatte, drehte er sich um. Seine Augen waren schmal und sein Mund ein Strich.
„Selbstverständlich“, sagte er dunkel. „Geh nur. Du wirst schon sehen, wohin das führen wird.“ Dann drehte er ihr den Rücken zu, unbeeindruckt von ihrer Nacktheit, und verließ die Suite.
Behutsam rückte Jessa zur Bettkante vor, unfähig, auch nur richtig nachzuvollziehen, was sie soeben und während der beiden vergangenen Tage erlebt hatte. An jenem Morgen war sie ins Büro gegangen und konnte nicht ahnen, dass ihr ganzer Arbeitstag auf den Kopf gestellt werden würde. Nun hatte sie das Gefühl, als läge dieser Morgen weit, weit zurück und als entstamme er nicht ihrem eigenen Leben, sondern dem einer Fremden. Sie fühlte sich, als wäre sie aus einer Achterbahn gefallen und taumelnd zu Boden gestürzt.
Sie musste sich zusammenreißen. Vor Tariqs Verhör konnte sie nicht sicher sein, nur weil er sich für kurze Zeit verabschiedet hatte. Er würde zurückkommen, das war so gewiss wie das Amen in der Kirche. Er war unerbittlich, und sie wunderte sich, dass sie das nicht schon fünf Jahre früher bemerkt hatte. Hätte ihr nicht klar sein müssen, dass dieser Fall eintreten würde? Hatte sie sich nicht deshalb für ihren Weg entschieden, um ihm nicht mehr begegnen zu müssen?
Das ist nicht der einzige Grund,flüsterte eine verräterische Stimme, doch sie wollte nicht darauf hören. Genauso wenig wie sie in den leidenschaftlichen Bildern der vergangenen Nacht schwelgen durfte. Nichts von all dem durfte jetzt eine Bedeutung haben.
Aber Jeremy ist auch sein Kind, flüsterte die gleiche verräterische Stimme. Der allzu bekannte Kummer überfiel sie mit aller Macht. Wenn er sich doch vorher zu erkennen gegeben hätte. Wenn sie nicht so einfältig gewesen wäre. Wenn sie für das Neugeborene so hätte sorgen können, wie es sich gehört hätte. Wenn, wenn, wenn.
Sie stand da, die Hände zu Fäusten geballt. Ihre Knie waren wie Pudding, sie atmete flach, hatte Tränen in den Augen. Tariq würde zurückkehren, und sie hatte keine Vorstellung davon, welche neue Munition er diesmal mitbringen würde. Noch so eine Vorstellung würde sie nicht überleben. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie die letzte schon überstanden hatte. Jedenfalls nicht unversehrt.
Sie befahl sich, nur an Jeremys Wohl zu denken. Um sich selbst konnte sie sich später kümmern.
Bevor Tariq wiederauftauchte, musste Jessa auf jeden Fall verschwunden sein.
11. KAPITEL
Als Jessa am Bahnhof Gare de Lyon eintraf, musste sie feststellen, dass sie keinen Cent Geld mit sich führte. Es war ein Schock.
Noch schlimmer. Sie hatte auch keinen Zugang zu Geld. Die Kreditkarte hatte sie in ihre Abendtasche gesteckt – noch in ihrer Wohnung gestern Abend in York. Aber sie hatte vergessen, sie mitzunehmen, als sie Tariqs Heim so Hals über Kopf verließ.
Sie war wirklich eine Idiotin.
All die unterdrückten Gefühle überrollten sie wie eine Flutwelle, als sie mitten in dem überfüllten Bahnhof stehen bleiben musste. Ständig befürchtete sie, die Beine würden ihr versagen. Sie musste aufpassen, nicht von rücksichtslosen Pendlern und Touristen niedergetrampelt zu werden, von denen sie immer wieder angerempelt wurde. Sie saß in der Falle. Gestrandet. Wie konnte sie jemals das Geheimnis um Jeremy bewahren, wenn sie nicht einmal in der Lage war, eine einfache Zugreise nach irgendwohin zu unternehmen? Bis auf die Haut vom Regen durchweicht, fröstelnd und allein in Paris. Die einzige Person, die sie um Hilfe bitten könnte, war gleichzeitig die letzte, an die sie sich um Hilfe wenden würde.
Wie sollte sie wieder aus dieser Situation herauskommen?
Sie spürte eine Hand auf ihrem Arm und wirbelte herum. Hatte sie jemanden angerempelt?
„Entschuldigung“, begann sie.
Doch es war Tariq.
Er trug einen neuen dunklen, maßgeschneiderten Anzug und einen dazu passenden Gesichtsausdruck. Ihr Ellenbogen ruhte sicher in seiner großen Hand. Zu flüchten hatte keinen Sinn, denn ohne sein Einverständnis hatte sie keine Chance. Kein Zweifel, dass sie mitleiderregend aussah – wie eine ertrunkene Ratte. Er jedoch sah aus wie das, was er darstellte: ein kraftvoller, mächtiger Mann am Ende seiner Geduld.
Tariq sah sie auf eine vorwurfsvolle Art an, die ihr gar nicht gefiel. Als hätte sie ihm etwas Unaussprechliches angetan. Dabei wollte sie lediglich Jeremy beschützen! Hatte sie ihn
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