Julia Extra Band 0349
und nimmer erwartet.
„Wahrscheinlich haben Sie darauf gewartet, dass ich in meiner Ungeschicklichkeit auch noch stolpere und lang hinfalle“, meinte Libby ungnädig.
„Ich fand, Sie haben sich ganz gut geschlagen da drinnen!“
„Und ich finde, Sie haben einen merkwürdigen Sinn für Humor, dass Sie mich als Kellnerin arbeiten lassen“, fauchte sie. „Haben Sie überhaupt jemals ernsthaft erwogen, mich als Praktikantin anzunehmen?“
„Erwarten Sie, dass ich mit Ihnen anders umgehe als mit Ihren Vorgängern? Bestehen Sie darauf, bevorzugt behandelt zu werden?“, erkundigte er sich kühl.
Libby lachte zynisch. „Ja, klar, es ist absolut glaubwürdig, dass Sie alle Ihre Praktikanten als Erstes Kaffee ausschenken lassen.“
Als sie merkte, wie verräterisch ihre Stimme zitterte, biss Libby sich auf die Lippe. Nur jetzt nicht weinen!
Entsetzt beobachtete Rafael, wie sich Libbys wunderschöne dunkelblaue Augen mit Tränen füllten. Trotzdem würde er sich nicht erweichen lassen! Mit dem Trick hatte sie wahrscheinlich mehr als einmal im Leben andere dazu gebracht, ihr sämtliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
Bei ihm klappte das aber nicht!
„Nicht alle mussten Kaffee servieren“, erklärte er ihr. „Callum, der junge Mann, der vorhin neben mir stand, hat zum Beispiel als Praktikant seinen ersten Tag in der Poststelle verbracht.“
Libby warf ihm einen ungläubigen Blick zu.
„Ja, wir arbeiten hier nämlich als ein großes Team“, informierte Rafael sie freundlich. „Dazu gehört, dass man die Tätigkeiten anderer respektiert. Ich tue das, aber ich habe in meinem Leben auch schon Straßen gekehrt und Fenster geputzt.“
„Aber wieso …“
Er ließ sie nicht zu Wort kommen. „Die jungen Leute, die mit einem Universitätsabschluss hier anfangen, haben meist ein sehr bequemes und privilegiertes Leben geführt. Das hat oft ein übersteigertes Selbstwertgefühl, Snobismus und leider manchmal auch einen Mangel an Respekt für Menschen, die gesellschaftlich weniger begünstigt sind, zur Folge.“
„Deshalb lassen Sie solche Schnösel erst mal Kaffee servieren?“
„Richtig. Oder andere einfache, aber notwendige Arbeiten verrichten.“
„Das war also eine Art Test?“, fragte Libby eifrig.
„So könnte man es durchaus sehen“, bestätigte er.
„Sie geben mir also wirklich die Chance, meiner Familie zu helfen?“
„Ihr Vater wird demnächst von meinem Anwalt benachrichtigt, dass die Rückzahlung des Kredits gestundet wird, während wir die Zahlen nochmals überprüfen.“
„Es hängt jetzt also alles von mir ab“, stellte Libby fest und sah ihm in die Augen. „Sie trauen mir nicht zu, dass ich es schaffe. Oder?“
„Es geht nicht darum, was ich Ihnen zutraue, Libby. Glauben Sie denn, dass Sie es schaffen können?“
„Oh ja, Rafael! Ich glaube, ich werde die beste Praktikantin sein, die Sie jemals hatten.“
9. KAPITEL
Libby Marchant war bestimmt nicht die beste Praktikantin aller Zeiten, aber die ungewöhnlichste, wie Rafael schon in den ersten Tagen klar wurde.
Sie benahm sich keineswegs wie eine verwöhnte Diva, was er eigentlich von ihr erwartet hatte. Den Berichten ihrer Betreuer zufolge widmete sie sich allen zugeteilten Aufgaben mit unermüdlicher Begeisterung.
Ihr Arbeitseifer war also über jeden Tadel erhaben, aber ihre persönlichen Eigenheiten ließen doch Zweifel aufkommen, ob sie wirklich für eine gehobene Stellung geeignet war.
Rafael wünschte, dass seine Angestellten ihre privaten Probleme nicht in die Büros trugen, sondern sich zu Hause damit beschäftigten. Hätte sich die Frage bisher jemals gestellt: Bei selbst gebackenen Keksen und Kuchen hätte Rafael es genauso gehalten.
Von denen schienen nämlich, seit Libby in der Firma war, die Schreibtische förmlich überzuquellen. Sollte Rafael das jetzt verbieten, würde er bestimmt Unmut hervorrufen. Solange die Süßigkeiten nur die Taillen seiner Mitarbeiter gefährdeten, wollte er nicht einschreiten.
Mit dem Fußballteam war es eine ganz andere Geschichte! Es hatte Rafael nicht behagt zu hören, dass Libby von der firmeneigenen Mannschaft sozusagen als Maskottchen adoptiert worden war. Sie hatte als Zuschauerin an der Grundlinie gestanden, und prompt hatten die jungen Männer zum ersten Mal seit Bestehen der Mannschaft ein Match gewonnen.
Seither war sie zur offiziellen Glücksbringerin ernannt. Dass im Umkleideraum anzügliche Bemerkungen und Scherze über sie gemacht wurden, war ihr
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