Julia Extra Band 356 - Ebook
währenddessen die Auslandsberichte der Stiftungsmitarbeiter lesen. Noch immer war sie fest entschlossen, Vasilii davon zu überzeugen, dass sie reif genug war, den Vorsitz der Stiftung zu übernehmen.
Als sie die Tür zur Suite öffnete, vernahm sie zwei männliche Stimmen aus dem anliegenden Raum, den Vasilii als Büro nutzte. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Doch die unerwartete Entdeckung, dass es sich bei einer der beiden Stimmen um die Kiryls handelte, ließ sie innehalten. Damit hatte Alena nicht gerechnet. Soweit sie wusste, war das Treffen erst für später anberaumt. Aber vielleicht hatte Kiryl das Warten ja auch nicht mehr ausgehalten und wollte sie mit dem Ergebnis des Gesprächs überraschen. Auf Zehenspitzen ging sie durchs Zimmer auf die Bürotür zu.
Kiryl hatte von Alenas Rückkehr nichts bemerkt. Er stand Alenas Halbbruder gegenüber und bereitete sich innerlich auf das Ultimatum vor, das er ihm stellen wollte.
Er hatte seine Verabredung mit Vasilii absichtlich vorverlegt, um sicherzugehen, dass sie nicht von Alena gestört wurden. Wenn sie eintraf, würde er schon lange weg sein, und Vasilii würde seiner Schwester erklären müssen, welche Absichten Kiryl mit seiner Beziehung zu ihr in Wahrheit gehegt hatte.
Alena.
Beim Gedanken an sie machte Kiryls Herz einen Satz. Aber warum nur? Wie hatte er es so weit kommen lassen können? Wie war es ihr gelungen, sich in seine Gedanken und in sein Herz zu schleichen? Vergangene Nacht, als er seit Langem wieder einmal allein in seinem Bett gelegen hatte, war er sich so einsam vorgekommen wie schon lange nicht mehr. Er hatte sie schrecklich vermisst, und es war nicht nur ihr weicher, warmer Körper gewesen, der ihm fehlte.
Alena, die sich ihm so rückhaltlos hingegeben hatte. Die gesagt hatte, dass sie ihn liebte. Aber was war das – Liebe? Nichts. Und auch wenn sich sein Bett ohne sie leer anfühlte, so würde er schon einen Ersatz für sie finden. Schließlich war sie ihm als Person völlig gleichgültig. Sie war nur eine Marionette in seinem Spiel, und das Spiel war alles, was zählte.
Gefühle durfte er sich nicht leisten. Gefühle waren in seinen Augen stets ein Zeichen von Schwäche. Wie ein schwaches Echo aus der Vergangenheit vermeinte er plötzlich das höhnische Lachen seines Vaters zu hören, sah seinen verächtlichen Blick, während er, Kiryl, vor ihm im Straßendreck lag.
„Du bist genau wie deine Mutter, diese Zigeunerin. Genau so sentimental, genau so schwach wie sie. Kein wirklicher Sohn von mir wäre jemals so schwach!“
Der Sohn seiner Mutter, mit derselben Schwäche wie sie. Mit Schwächen, die er sich nicht leisten konnte. Nur wenn Kiryl so wurde wie sein Vater – gefühlskalt und unangreifbar –, würde er ihn überragen. Und nur so konnte er das Versprechen einlösen, das er sich selbst gegeben hatte, als er damals in der Gosse gelegen hatte.
Warum zögerte er dann? Warum war jetzt alles, wofür er so lange hart gearbeitet hatte, durch seine Schwäche bedroht? Woher kam der Impuls, das Treffen mit Vasilii abzusagen und London auf der Stelle zu verlassen? Warum war da eine leise Stimme, die ihm zuflüsterte, sich alles noch einmal zu überlegen? Er musste sein Ziel erreichen – wenn ihm das nicht gelang, versagte er vor seinen eigenen Ansprüchen.
Doch obwohl Kiryl all dies wusste, stand ihm immer noch Alena vor dem geistigen Augen, wie sie ihn voller Liebe und Zärtlichkeit angeschaut hatte. Er vermeinte sogar zu hören, wie sie ihn anflehte, mit dem Liebesspiel fortzufahren. Und wenn er die Augen schloss, war sofort die Erinnerung an ihre Berührungen wieder da.
Alena …
Nein! Er durfte diesen Bildern und Einflüsterungen nicht erliegen. Schließlich sollte er nie vergessen, dass er ganz allein auf dieser Welt war. Wenn er sich nicht für seine eigenen Interessen einsetzte, würde es niemand anderes tun. Alena hatte ihren Bruder und all die Männer, die ihr zukünftig noch zu Füßen liegen würden. Dieser Gedanke versetzte ihm einen Stich ins Herz.
Kiryl biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich wieder auf den Mann, der vor ihm stand. Vasilii Demidov war genauso groß wie er, allerdings ein paar Jahre älter. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten und seine Haut eine Nuance dunkler als Alenas, doch er hatte dieselben silbergrauen Augen wie sie. Die Augen, in die Kiryl nie wieder blicken würde. Bei dem Gedanken wurde ihm ganz schwer ums Herz, doch er riss sich zusammen. Das spielte jetzt keine
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