JULIA FESTIVAL Band 95
Aber eins wusste sie ganz genau. Wenn sie nicht gleich an ihrem ersten Arbeitstag gefeuert werden wollte, musste sie Tiffany jetzt irgendwie auf ein anderes Thema bringen.
„Wann gibt’s bei euch eigentlich Abendessen?“, fragte sie deshalb mit einem Blick auf die Armbanduhr.
Das Mädchen folgte ihrem Blick. „Nur noch ein paar Minuten. Wir müssen uns beeilen, sonst bekommen wir nur noch an den Tischen der Kleinen Platz. Die sind zwar ganz lieb, aber sie veranstalten immer so eine Schweinerei beim Essen.“ Tiffany packte Elissa bei der Hand und zog sie hinter sich her. „Los, komm, du kannst nachher weiter auspacken.“
„Ich komme ja schon“, Elissa lachte. Sie hatte kaum genügend Zeit, die Tür hinter sich zuzuziehen. Gemeinsam verließen sie das Gebäude und traten in die kühle Abendluft hinaus.
Das Ojai-Tal lag ungefähr zwei Autostunden nordwestlich von Los Angeles. Im Sommer kletterten die Temperaturen hier tagsüber oft über dreißig Grad. Und wenn es im September in anderen Teilen des Landes schon merklich kühler wurde, so hatten sie hier immer noch herrlichstes Sommerwetter mit strahlend blauem Himmel und kühlen, sternenklaren Nächten.
Obwohl Tiffany ein ganz schönes Tempo anschlug, gelang es Elissa, sich ein wenig umzusehen. Hier draußen hatte sich nichts geändert. Sie erinnerte sich gut an die herrlichen Rasenflächen und die riesigen alten Bäume, die einem in der größten Sommerhitze Schatten spendeten. Im Vorübergehen fiel ihr Blick auf einige alte Fahrräder und abgegriffene Basketbälle, die dringend hätten aufgepumpt werden müssen. Sie beobachtete auch mehrere Dutzend Kinder sämtlicher Altersstufen von fünf bis ungefähr siebzehn, die sich schwatzend auf das einstöckige Gebäude am anderen Ende der Auffahrt zubewegten.
Elissa versuchte das, was sie hier sah, mit ihren Erinnerungen in Einklang zu bringen. Sicher, die Bäume waren größer geworden und die Büsche dichter, auch waren es heute andere Kinder als früher. Dennoch strahlte das Waisenhaus immer noch die gleiche einträchtige Ruhe wie früher aus. Auch wenn es für die Kinder ein schweres Los war, ohne Eltern und ohne ein normales Zuhause aufzuwachsen, so war das Grace Waisenhaus immerhin eine durchaus akzeptable Alternative für diejenigen, die sich allein durchschlagen mussten.
„Sieh nur!“, riss Tiffany sie aus ihren Betrachtungen. „Da drüben ist Cole.“ Sie winkte ihm mit der freien Hand zu. „Hallo, Cole! Ich zeige Elissa, wo der Speisesaal ist.“
Cole hatte sie entdeckt. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Elissa wusste genau – wäre sie allein gewesen, hätte er ihr den Rücken zugewandt. Doch im Beisein der Kinder hatte er keine andere Wahl, als sich ihnen zu nähern. Das Lächeln auf seinem Gesicht erreichte die dunklen Augen nicht. Erst als er sich Tiffany zuwandte, schmolz das Eis. „Na, spielst du Empfangskomitee für Elissa?“
Tiffany nickte. „Ja, ich finde Elissa prima.“ Sie sah sich um. „Wenn wir uns nicht beeilen, bekommen wir keine guten Plätze mehr. Ich laufe schon vor und reserviere euch zwei, okay?“
Bevor sie auch nur antworten konnte, war das Mädchen in der Menge verschwunden. Elissa blieb mit Cole allein zurück. Zögernd wandte sie sich in seine Richtung und begegnete seinem Blick. Sie befürchtete, sich darin zu verlieren. Er hielt sie damit gefangen, wie er es schon immer getan hatte. Schon als Kind hätte sie viel dafür gegeben, seine Gedanken zu erraten. Fragte er sich, warum sie hier war? Hatte er in den vergangenen Jahren überhaupt an sie gedacht? Erinnerte auch er sich noch an die guten Zeiten, die sie miteinander verbracht hatten? Hatte er sie wenigstens ein bisschen vermisst? Wie wichtig wäre es ihr zu wissen, dass sie ihm noch etwas bedeutete, dass auch er sich nach ihr gesehnt hatte! Aber hätte er dann nicht versucht, Kontakt aufzunehmen?
„Tiffany hat mir erzählt, dass ihre Mutter drogenabhängig ist“, begann Elissa, die das gespannte Schweigen allmählich nervös machte. Cole ging jetzt neben ihr her. Sie waren die Einzigen, die den Speiseraum noch nicht erreicht hatten. Sämtliche Kinder waren inzwischen von der Bildfläche verschwunden.
„Stimmt. Eine Zeit lang war sie verschwunden. Man hielt sie für tot, bis sie eines Tages halb tot von einer Überdosis Heroin in die Intensivstation irgendeines Krankenhauses eingeliefert wurde. Es besteht keine Hoffnung, dass sich ihr Zustand in absehbarer Zeit bessert. Deshalb hat der
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