Sünden der Faulheit, Die
Erster Tag und erste Nacht
Der Straßenlärm wurde mittags unerträglich. Bernhard Lacan wälzte sich hin und her, dann war er wach. Durch die Rippen der Aluminiumjalousie über dem Bett stach das Licht einer fahlgelben Wintersonne in seine Augen.
Auf der anderen Straßenseite stand Siebert, der Lebensmittelhändler, fröstelnd vor den Kisten mit Obst und Gemüse und blies Atemschwaden in seine Hände. Mahmut, der Syrer, lehnte nebenan in der Türe seines Trödelladens. Lacan fluchte leise, als er ihn sah. Mahmut betrog ihn nicht nur bei der Abrechnung der Schallplatten, sondern am anderen Tag wußte auch stets Siebert Bescheid und lief mit dem Anschreibzettel quer über die Straße, wenn Lacan sich aus der Tür drückte. Ein orangefarbiger Müllwagen fuhr von Haus zu Haus, Müllmänner rollten scheppernd die Tonnen übers Pflaster.
Lacan ließ die Jalousie wieder herab und knipste die Lampe neben seinem Bett an. Er raufte sich die Haare und stieß zischend Luft heraus. Mit einer angerauchten Zigarette, die er im Aschenbecher gefunden hatte, streifte er ziellos durch das Dämmerlicht seiner beiden Zimmer. Auf einem Tisch stand eine Reiseschreibmaschine mit dem Manuskript seiner nächsten Sendung und ein Teller eingetrockneter Bohnen. Lacan überflog den Text, schüttelte den Kopf und drückte die Kippe am Rand des Tellers aus.
Im Gang stolperte er über seine Jacke und seine Hose. In den Taschen der Blue jeans waren fünf Mark achtzig. Lacan versuchte sich zu erinnern, wieviel Geld er mitgenommen hatte, um zu rekonstruieren, wie betrunken er gewesen war, aber es fiel ihm nicht mehr ein.
Die Wände der Küche waren von der Explosion einer Espressokanne gesprenkelt wie das Fell eines exotischen Tieres. Müde sank er auf einen Hocker und wartete auf das Kochen des Kaffeewassers.
Bernhard Lacan hatte lockige, kurze braune Haare, braune Augen; er war zweiunddreißig Jahre alt und arbeitete bei einer Berliner Radiostation, Abteilung Musikprogramm. Von dort stammten auch die Schallplatten, die er Mahmut in Kommission überließ.
Das Kabel des Telefons schlängelte sich um seine Füße und verschwand im Kühlschrank. Staunend holte er den Apparat, auf dessen Gehäuse mit rotem Filzstift Nummern notiert waren, aus der Kälte. Eine Dose marinierter Heringe stand verloren auf dem oberen Rost.
Plötzlich kam ihm eine erschreckende Idee. Er trat in den Flur und rief: »Renate?« Keine Antwort. »Renate, bist du da?« Zu seiner Erleichterung war er alleine. Hatte er gestern nicht mit einer Renate engumschlungen irgendwo auf einem Barhocker gesessen? Es war so anstrengend, sich zu erinnern.
In der Kleingeldschüssel auf dem Fensterbrett lagen fünf Mark. Mit dem Geld aus der Hose würde es reichen, den Opel einmal zu tanken. Zwanzig vor zwei, noch über eine Stunde Zeit, bis er zum Sender mußte. Lacan warf sich aufs Bett und lauschte den Straßengeräuschen an einem Winternachmittag, da klingelte es. Mit angehaltenem Atem schlich er in den Flur. Es klingelte zum zweitenmal, und eine Stimme, die er zu gut kannte, rief: »Mach auf! Ich weiß, daß du zu Hause bist, dein Auto steht unten falsch geparkt!«
»The postman never rings twice«, summte Lacan und öffnete die Türe.
»Was singst du da?« Sie drängte sich an ihm vorbei in die Wohnung. »Das Singen wird dir gleich vergehen.«
»Welch ein Lichtblick«, sagte er erleichtert. Mit Valeska, seiner geschiedenen Frau, würde er heute noch fertigwerden. Sie war etwa fünfunddreißig, und ihre Figur begann unaufhaltsam, die Form zu verlieren. Sie hatte kurzgeschnittene blonde Haare und trug ein weites modernes Kleid mit großen aufgenähten Taschen, im linken Ohr baumelte ein dreieckiger Plastikohrring, und in einem Strumpf war eine Laufmasche.
»Du hast da ’ne Laufmasche«, sagte Lacan.
Sie sah erstaunt an sich herunter, hob den Unterschenkel und strich über das lädierte Nylongewebe. Die erste Runde ging an Lacan.
»Wie geht’s denn …«
»Weißt du, der Wievielte heute ist?« unterbrach ihn Valeska. Sie hatte sich vor ihm aufgebaut, nicht bereit, auch nur einen Punkt noch abzugeben.
»Mittwoch vielleicht?« Lacan zog die Schultern hoch. Kein Gong in Sicht, und er wußte, was nun folgte.
»Seit sechs Wochen warte ich schon wieder auf deine gerichtsnotorischen Verpflichtungen«, sie machte eine kleine Pause, um das Wort gerichtsnotorisch auszukosten. »Soll deine Tochter nackt rumlaufen?«
Lacan schüttelte schuldbewußt den Kopf.
»Um genau zu sein: Du
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