JULIA FESTIVAL EXTRA Band 06
sie ihren mittlerweile verstorbenen Ehemann jedoch nicht dort, sondern auf der Party kennengelernt, die Lady Caroline Agnew, eine Freundin ihrer Mutter, aus Anlass der Volljährigkeit ihrer Tochter gegeben hatte.
Rourke war damals der „angesagte“ Fotograf, arbeitete unter anderem für „Vogue“, und Honor war von ihm fasziniert. Alles an ihm verriet, dass er zu der Welt gehörte, nach der sie sich so sehr sehnte. Seine Kleidung, seine Frisur, die lässige Art und vor allem sein Akzent. Irgendwie gelang es ihr, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und sie verließen die Party gemeinsam.
Drei Monate später wurden sie ein Liebespaar, drei weitere Monate danach heirateten sie, und Honor brach das Medizinstudium ab. Zwei Jahre lang war sie blind vor Liebe und wollte nicht sehen, dass er sie belog und betrog, trank, Drogen nahm und Schulden machte.
Ihre Tochter Abigail war noch keine sechs Monate alt, als er sie das erste Mal verließ.
Honors Eltern waren strikt gegen die Heirat gewesen und weigerten sich, sie mit dem Kind bei sich aufzunehmen. Ihr Vater zahlte jedoch die Miete für eine kleine Wohnung, und sie suchte sich eine Arbeit in einer kleinen Familienapotheke. Dort entdeckte sie in einer Dachkammer ein altes Buch über Kräuter, das sie sofort fesselte.
Eines dunklen, verregneten Abends stand Rourke wieder vor ihrer Tür, und naiv wie sie war, bat sie ihn herein. Neun Monate später wurde Ellen geboren. Rourke hatte schon die nächste Affäre begonnen, dieses Mal mit einer reichen, älteren Frau.
Wieder allein, hatte Honor begonnen, sich intensiver mit Heilkräutern zu beschäftigen, und inzwischen war sie eine ausgebildete Heilkundlerin, die ihren Patienten sehr oft helfen konnte.
Sie war auch deshalb in das alte Haus auf dem Gut ihres Cousins Lord Astlegh gezogen, weil sie auf dem dazugehörigen Grundstück ihre eigenen Kräuter anbauen konnte. Das Haus lag sehr einsam, meilenweit vom Herrenhaus und von Haslewich entfernt, und hatte mit seiner spartanischen Einrichtung bei ihren Töchtern tiefes Entsetzen ausgelöst.
„Das ist ja eine Bruchbude“, hatte Abigail ausgerufen.
„Eine echt armselige Bruchbude“, hatte Ellen ihrer Schwester zugestimmt.
„Man wird dich für eine Art Hexe halten“, warnte Abigail im Scherz. „Also wirklich, Mum, mit all dem Geld, das du von Dad geerbt hast, hättest du dir ein richtig komfortables Haus kaufen können. Ich weiß, dass du sparen musstest, als wir noch klein waren, aber jetzt …“
„Jetzt habe ich mich entschieden, hier zu leben“, unterbrach Honor ihre Tochter mit Nachdruck.
Selbst jetzt noch konnte sie kaum fassen, dass Rourke ihr derart viel Geld hinterlassen hatte. Sie hatte nicht erwartet, dass er so jung sterben würde, erst recht nicht an einer verschleppten Erkältung, die sich zu einer Lungenentzündung entwickelt hatte. Da sie nie geschieden worden waren, war sie die gesetzliche Erbin gewesen. Das junge, langbeinige Model, mit dem Rourke zusammengelebt hatte, war selbst reich und nicht an seinem Geld interessiert.
Das Vermögen hatte er nicht als Modefotograf erworben, sondern mit seinen frühen Arbeiten, die durch ihre Originalität zu begehrten und sehr teuren Sammlerstücken geworden waren. Honor hatte sich das Geld mit ihren Töchtern geteilt.
Was sie den beiden jedoch nicht erzählt hatte, war, dass ihr neues Heim vor allem deshalb so heruntergekommen war, weil es einen denkbar schlechten Ruf besaß. Die Einheimischen erzählten sich, dass es für einen jüngeren Bruder des damaligen Lords Astlegh gebaut worden war, der dort seine Geliebte unterbrachte. Er besuchte sie dort, blieb manchmal tagelang bei ihr. Sehr zum Missfallen seiner Familie, die seine Heirat mit der Tochter eines anderen Großgrundbesitzers arrangiert hatte.
Der junge Mann wollte jedoch nur eine Frau, seine Geliebte, das wilde Mädchen aus einer umherziehenden Zigeunersippe, das manchmal barfuß durch den Wald lief.
„Komm mit mir mit“, soll die Frau ihn angeblich beschworen haben, als er ihr von den Heiratsplänen seiner Familie erzählte. „Lass uns zusammen fortgehen.“
Er schüttelte den Kopf. Er liebte außer ihr auch gutes Essen, gute Weine und gute Bücher.
„Ich kann nicht hierbleiben“, sagte die Zigeunerin. „Es beengt mich. Ich muss reisen, frei und ungebunden sein. Komm mit mir.“
„Ich kann nicht“, erwiderte er betrübt.
„Du bist ein Feigling“, entgegnete sie aufgebracht. „Du hast kein Feuer, keine Leidenschaft. Du
Weitere Kostenlose Bücher