JULIA FESTIVAL EXTRA WEIHNACHTSBAND Band 03
der Weihnachtsmann bald kommt. Meine Mutter konnte das ganze Gedicht auswendig. Wahrscheinlich stand es in einem meiner Kinderbücher.“
„Haben Sie Geschwister, Selina?“
„Nein. Ich glaube, meine Mutter konnte keine Kinder mehr bekommen.“ Selina blickte ihn forschend an. Sein Gesicht hatte einen seltsam düsteren, zugleich aber sehnsüchtigen Ausdruck. „Dachten Sie gerade an Ihre eigene Kindheit? War sie sehr deprimierend?“, fragte sie leise.
„Deprimierend? Nein, eigentlich nicht, ein wenig eintönig vielleicht.“ Er sah sie durchdringend an. „Machen Sie sich nicht zur Sklavin Ihres Pflichtbewusstseins. Geben Sie Robbie nie das Gefühl, Ihnen irgendetwas schuldig zu sein. Und versprechen Sie mir zu schreiben, wenn es zu viel für Sie wird? Mir ist plötzlich klar geworden, dass ich nicht will, dass er, ach, ich weiß nicht.“ Mit einem Seufzer stellte Steven seinen Becher auf den Kaminsims. „Ich gehe spazieren, Selina, frische Luft schnappen.“
Sie wollte einwenden, wie unvernünftig es doch sei, bei der Kälte nach draußen zu gehen, änderte aber ihre Absicht und nickte nur. Sie hatte den Eindruck, dass Steven innerlich mit sich und seinen Schuldgefühlen kämpfte, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Die Vergangenheit hatte ihn wider Erwarten eingeholt.
Selina hielt es für besser, oben zu sein, bevor Steven wiederkam. Sie wollte einer peinlichen Stille wie am vergangenen Abend aus dem Weg gehen oder, was sie betraf, auch zu große Nähe vermeiden. Aber schlafen konnte sie noch nicht. Robbies Strumpf musste gefüllt werden, und außerdem wollte sie Rentierspuren in den Schnee zeichnen.
Selina lächelte und dachte an ihre eigene Kindheit. Einmal, als Schnee lag, hatte ihr Vater Schlitten- und Rentierspuren nachgemacht. Sie konnte sich genau an ihre Begeisterung und Aufregung bei deren Anblick erinnern.
Sich um ein Kind zu kümmern bedeutete nicht nur Verantwortung, sondern auch Spaß. Und sie liebte Robbie, konnte sich eine Zukunft ohne ihn nicht vorstellen, war neugierig, wie er sich entwickeln und mit fünfzehn oder einundzwanzig sein würde.
Auf Zehenspitzen schlich sie nach oben, holte den Strumpf, der am Ende von Robbies Bett hing, und ging damit hinüber in ihr Zimmer, um ihn zu füllen. Während sie den Koffer mit Robbies Geschenken vom Schrank nahm, fiel ihr plötzlich ein, dass sie gar nichts für Steven hatte.
Selina ließ sich aufs Bett fallen und überlegte. Was konnte sie ihm nur schenken? Dann fiel ihr das Buch von Edgar Allan Poe ein, das sie für ihren Vater gekauft, aber noch nicht abgeschickt hatte. Sie würde es einpacken und unter den Baum legen, sobald Steven im Bett war.
Vollständig angezogen und bis über beide Ohren zugedeckt, lag Selina im Bett. Erst eine gute halbe Stunde, nachdem Steven schlafen gegangen war, schlich sie hinunter. Sie nahm den Besenstiel, um damit die Huf- und Schlittenspuren in den Schnee zu zeichnen, und öffnete vorsichtig die Hintertür. Nur die Abdrücke von Stevens Schuhen waren zu sehen. Wenn sie genau dort hineintrat, würden es auch die einzigen bleiben – die des Weihnachtsmanns.
„Noch so ein Weihnachtsbrauch, den ich nicht kenne, Selina?“, rief Steven von der Hintertür her, und ihr blieb vor Schreck fast das Herz stehen.
„Pst!“, warnte sie ihn eindringlich und wirbelte so schnell herum, dass sie fast gestürzt wäre. „Bleiben Sie, wo Sie sind, sonst verwischen Sie die Fußspuren!“
Steven nickte, und Selina machte sich wieder an die Arbeit. Wahrscheinlich hielt er sie für verrückt.
Nachdem das Kunstwerk vollendet war, tappte Selina zurück zum Haus. Steven schmunzelte, als sie ihm den Besen reichte und hereinkam.
„Der Weihnachtsmann ist gerade da gewesen“, flüsterte sie, während sie leise die Hintertür schloss. „Sie dürfen sich über den Sherry und den Gewürzkuchen hermachen.“
„Fein, danke. Hier, ich habe Ihnen Tee gekocht.“ Er drückte sie auf einen Stuhl und reichte ihr den Becher. Dann bückte er sich, um ihr die Slippers auszuziehen, an denen der Schnee klebte.
„Warum haben Sie keine Boots angezogen, Selina? Ihre Strümpfe sind völlig nass!“
„Ich wollte Ihre Fußspuren nicht verwischen“, erklärte sie. Ein kurzer Schauer überlief Selina, als Steven ihr die Socken abstreifte und begann, ihr die kalten Füße zu massieren.
„Besser?“, fragte er sanft.
„Hm“, flüsterte Selina. Es war zu schön. Prickelnde Wärme durchströmte sie unter der Berührung von Stevens
Weitere Kostenlose Bücher