Julia Gold Band 0045
Dämmerlicht des beginnenden Tages eigenartig leuchtete. Riesige Dünen, die auf einer Seite senkrecht abfielen, während auf der anderen Seite der Wüstenwind den Sand in sanften Wellen angeweht und aufgehäuft hatte, säumten die breite Straße. Über dieser grenzenlosen Einöde, die sich nur für den oberflächlichen Betrachter nicht veränderte, schien ein Hauch von Ewigkeit zu liegen.
Hat der Wind bereits Sand über Glens Flugzeug und die beiden Menschen irgendwo dort draußen geweht, die nun im Tod vereint sind? überlegte Leah. Bei dieser Vorstellung erbebte sie und schloss rasch wieder die Augen, um die quälenden Gedanken zu verdrängen.
Dann nickte sie wieder ein. Auf einmal schreckte sie auf, denn sie hörte, wie die beiden Männer sich unterhielten. Leah blickte zum Fenster hinaus und erkannte, dass sie die Wüste verlassen hatten und sich einem Dorf näherten. Sie sah Dattelplantagen, die von Bewässerungsgräben durchzogen waren. Unter den Dattelpalmen wuchs Gemüse. Außerdem gab es Granatapfelbäume, Bananenstauden, Oleander und Weinreben.
„Wo sind wir?“, fragte sie.
„Das ist die Oase von Shalaan“, teilte man ihr mit. „Geburtsort und geistige Heimat des Scheichs.“
Hatte der Scheich sich etwa nach dem Fiasko in Qatamah hierhin zurückgezogen? Leah runzelte die Stirn, denn weit und breit zeigte sich kein Palast. Das einzige größere Gebäude war die Moschee im Zentrum des Dorfs. Trotz der vielen neuen massiven Gebäude schien die Zeit in diesem Ort stehen geblieben zu sein, denn Ziegen und Hühner liefen auf den Straßen herum. Alles war ruhig und still.
„Ist das unser Ziel?“, erkundigte sie sich.
„Nein, aber wir haben es bald erreicht“, lautete die wenig hilfreiche Antwort.
Doch nachdem sie den Ort hinter sich gelassen hatten, brauchte Leah nicht mehr zu fragen, wohin die Reise ging. Vor ihnen, am Rand der Wüste, lag ein großes festungsähnliches Gebäude aus Stein, das so trist und abweisend wie ein Gefängnis aussah.
Hohe Mauern, die an jeder Ecke von einem Turm überragt wurden, schützten das riesige quadratische Bauwerk, das wahrscheinlich früher einmal dazu gedient hatte, Angriffe abzuwehren, die in der Zeit der Stammesfehden an der Tagesordnung gewesen waren.
Dieser Platz passt zu ihm, dachte Leah. Denn ihr erster Eindruck von ihm war gewesen, dass karge Lebensweise und der harte Überlebenskampf in der Wüste und deren Einsamkeit ihn geprägt hatten. Das alles gab ihm die Kraft, sein Volk mit sicherer Hand in eine bessere Zukunft zu führen. Dafür war er genau der richtige Mann, unerschrocken, einschüchternd und autoritär.
Aber was mich angeht, irrt er sich, überlegte Leah. Trotz der Verzweiflung über Glens Tod war sie darauf bedacht, sich auf jeden Fall ihren Stolz zu bewahren. Sharif al Kader konnte sie einsperren und ihr eine Flucht unmöglich machen, dennoch würde sie ihm beweisen, dass er sich in seinem Urteil über sie getäuscht hatte. Und sie würde sich auch gegen jede Verurteilung ihres Bruders wehren, dessen Andenken nicht verunglimpft werden durfte.
Die Einfahrt zur Festung wurde durch massive Eisentore gesichert, die allerdings jetzt geöffnet waren, sodass sie geradewegs hindurch und in den gepflasterten Innenhof fahren konnten. Das Gebäude innerhalb der Mauern war mit Arkaden geschmückt, die Schutz vor der Sonne boten. Einige blühende Bäume, die in regelmäßigen Abständen gepflanzt waren, verliehen dem Ganzen etwas Farbe, obwohl sie die düstere Atmosphäre nur wenig auflockerten.
Nachdem die Fahrer die Wagen angehalten hatten und die Männer ausgestiegen waren, wurden sie von anderen begrüßt, die aus dem Gebäude eilten. Leah blieb im Auto sitzen und bereitete sich seelisch auf das unvermeidliche Wiedersehen mit Sharif al Kader vor.
Schließlich kam der Mann zurück, der mit ihr im Fahrzeug gesessen hatte, öffnete die Tür und bedeutete Leah auszusteigen.
Sie tat es und war froh, dass sie ein langes Gewand und einen Schleier trug, denn wieder einmal war sie Gegenstand allgemeinen Interesses.
Man geleitete sie zwischen den Spalier stehenden Männern hindurch zu zwei Frauen in schwarzen Gewändern, die sie am Haupteingang erwarteten.
„Sie stehen Ihnen während der Zeit Ihres Aufenthalts zur Verfügung“, teilte man ihr mit. „Sie werden Ihnen Ihre Suite zeigen und dafür sorgen, dass Sie alles haben, was Sie brauchen.“
Leah seufzte erleichtert auf. Vielleicht war der Scheich doch noch nicht aus Qatamah zurückgekommen.
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