Die Moralisten
Buch
Mitten in der Großstadt bleiben sie Wilde. Keine Familie zähmt sie. Ihre Heimat ist das Waisenhaus, ihr Spielplatz der Asphalt von New York. Frankie Kane, der als einziger Erbe den Namen seiner Mutter besitzt, ist einer von ihnen. Nur zwei Dingen jagt er in seinem wechselvollen Leben nach: der Liebe und dem Geld. Denn beide versprechen Sicherheit, die er letztlich aber nur in sich selbst finden kann. Schon als Junge gerät Frankie in das Räderwerk gangsterhafter Machenschaften, kann sich aber für kurze Zeit in die Geborgenheit einer Familie retten. Doch die lockenden Inseln glücklicher Sicherheit können für ihn nur Zwischenstation und Atempause bedeuten. Schon bald zwingt ein unerbittliches Schicksal den jungen Mann wieder in den trüben Strom der Unterwelt, in dem er sich durch Wagemut und Intelligenz bis an die Spitze eines Gangstersyndikats emporkämpft. Erst die Liebe einer Frau schlägt für ihn die Brücke zu einem Dasein, das ihm schon in seiner Kindheit als unerreichbares Traumziel vorschwebt.
VORSPIEL
Mrs. Cozzolina probierte die Suppe - eine kräftige, sämige Tomatensuppe, gerade mit der richtigen Prise Knoblauch. Sie schmatzte - die Suppe war gut. Mit einem erleichterten Seufzer ging sie an den Tisch zurück, um Ravioli mit gehacktem Hühnerfleisch zu füllen. Es war ein langer und heißer Junitag gewesen, aber jetzt lag Regen in der Luft. Der Himmel hatte sich verdunkelt, und Mrs. Cozzolina knipste das Licht an.
»Diese Amerikanerinnen«, dachte sie, während ihre dicken Finger geschickt den Teig formten und der Schweiß ihre Stirn und Oberlippe feuchtete, gerade da, wo der Anflug eines Schnurrbarts sichtbar war. »Planen ihre Babys so, daß sie nicht im Sommer schwanger sind. Wo gibt's denn so was? Meine Güte, in der alten Heimat« - lächelnd dachte sie an ihre Jugend
- »bekam man sie einfach. Damals wurden Kinder nicht geplant.« Sie hatte ein gewisses Recht, die Amerikanerinnen für verrückt zu halten, denn sie war Hebamme, und ihr Geschäft war den ganzen Sommer hindurch schlecht gegangen. Dabei hatte sie sieben eigene Kinder zu ernähren, seit ihr Mann gestorben war.
Irgendwo in der Dunkelheit des Hauses läutete die Türglocke. Mrs. Cozzolina hob horchend den Kopf und überlegte, wer das sein könnte. Keine ihrer Kundinnen war vor dem nächsten Monat fällig. »Maria«, rief sie mit ihrer kräftigen Stimme, die durch die dunklen Korridore hallte, »geh an die Tür und sieh nach, wer da ist!«
Keine Antwort. Wieder läutete die Türglocke, diesmal in einem schrillen, befehlenden Ton. Zögernd wischte sich Mrs. Cozzolina die Hände an der Schürze ab und ging durch den langen, engen Korridor zur Haustür. Durch die bunte Scheibe
sah sie einen dunklen Schatten.
Auf der Schwelle stand ein junges Mädchen, einen kleinen Koffer neben sich. Ihr Gesicht war dünn, und ihre Augen leuchteten angstvoll aus der Dunkelheit. Sie war offensichtlich schwanger, und zwar, wie Mrs. Cozzolina mit erfahrenem Blick feststellte, im letzten Monat. »Sind Sie die Hebamme?« Die Stimme klang weich und verängstigt.
»Ja, Madam«, sagte Mrs. Cozzolina, die genau wußte, wann sie eine Dame vor sich hatte.
»Entschuldigen Sie die Störung, aber ich bin fremd in New York, und ich...« Ein Zittern durchlief ihren Körper. »Es ist soweit«, sagte sie, »und ich weiß nicht, wo ich bleiben soll.«
Mrs. Cozzolina schwieg eine Weile. Wenn sie das Mädchen aufnahm, so hieß es, daß Maria ihr Zimmer hergeben mußte, und Maria würde das nicht passen. Sie schlief nicht gern bei ihren Schwestern. Und vielleicht hatte das Mädchen kein Geld; vielleicht war sie auch gar nicht verheiratet. Automatisch fiel ihr Blick auf die Hand des Mädchens: ein kleiner Goldreif steckte an einem Finger.
»Ich - ich habe etwas Geld«, stammelte das Mädchen. Sie hatte Mrs. Cozzolinas Gedanken erraten.
»Aber ich habe kein Zimmer«, sagte Mrs. Cozzolina.
»Sie haben sicher Platz«, beharrte das Mädchen. »Ich habe keine Zeit mehr, woanders hinzugehen, und Sie sind doch Hebamme.«
Mrs. Cozzolina gab nach. Maria mußte eben bei ihren Schwestern schlafen, ob es ihr paßte oder nicht. »Kommen Sie rein«, sagte sie und nahm den Koffer.
Das Mädchen folgte Mrs. Cozzolina durch den dunklen Korridor und dann eine Treppe hinauf zu Marias Zimmer.
»Legen Sie Ihr Jackett ab«, sagte Mrs. Cozzolina, »und machen Sie es sich bequem.« Sie half dem Mädchen beim
Ausziehen und sorgte dafür, daß sie sich hinlegte. »Wann haben die
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