Julia Quinn
waren wirklich fünfzehn Meter bis zum Boden. Aber
es gab ein Fensterbrett, und wenn es ihr gelang, irgendein Gefäß
aufzutreiben, dann könnte sie es draußen aufstellen, um Regenwasser oder Tau
darin aufzufangen. Sie hatte schon häufiger Hunger gelitten; sie wusste, dass
sie das aushalten konnte. Aber Durst war etwas vollkommen anderes.
Sie fand einen kleinen
zylinderförmigen Behälter, in dem gewöhnlich der Federkiel auf dem Schreibpult
stand. Der Himmel war immer noch klar, aber wie das englische Wetter nun einmal
war, machte sich Caroline nicht unberechtigte Hoffnungen, dass es bis zum
Morgen regnen würde, weshalb sie den Behälter für diesen Fall auf das
Fensterbrett stellte.
Dann ging sie zum Bett zurück und
verstaute ihre Habseligkeiten wieder in der Reisetasche. Gott sei Dank hatte
ihr Häscher den Schriftzug vorne in der Bibel übersehen. Ihre Mutter hatte ihr
das Buch hinterlassen, als sie gestorben war, und er hätte sicher wissen
wollen, warum der Name Cassandra Trent dort stand. Und seine Reaktion auf ihr
kleines persönliches Wörterbuch ... gütiger Himmel, sie würde Schwierigkeiten
haben, das zu erklären.
Auf einmal hatte sie ein seltsames
Gefühl ...
Sie streifte ihre Schuhe ab und
glitt von dem Bett, ging auf leisen, bestrumpften Sohlen zur Wand, in der sich
die Tür befand. Sie bewegte sich dicht daran entlang, bis sie an der Tür
angekommen war. Sie bückte sich und spähte durch das Schlüsselloch.
Aha! Genau, wie sie gedacht hatte.
Ein graues Auge erwiderte ihren Blick.
»Und Ihnen auch eine gute Nacht!«
sagte sie laut, nahm ihren Hut ab und hängte ihn über die Türklinke, so dass er
den Blick durch das Schlüsselloch versperrte. Sie wollte nicht in ihrem einzigen
Kleid schlafen, aber sie würde sich gewiss nicht ausziehen, solange es möglich
war, dass er ihr dabei zuschaute.
Sie hörte ihn fluchen, dann
verhallten seine Schritte auf dem Flur. Caroline zog sich bis auf ihre
Unterröcke aus und kroch in das Bett. Sie starrte an die Decke und dachte nach.
Und dann fing sie an zu husten.
3. KAPITEL
ou/trie/ren (Verb). Übertreiben, übertrieben darstellen.
Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als ein wenig zu outrieren, wenn man andere davon überzeugen will, dass man wirklich krank ist.
Aus dem persönlichen Wörterbuch von Caroline Trent
Caroline hustete die Nacht durch.
Sie hustete in der Morgendämmerung.
Sie hustete, als der Himmel sich
strahlend blau färbte, und hörte nur kurz auf, um das Gefäß zum Wassersammeln
auf dem Fensterbrett zu überprüfen. So ein Pech. Nichts. Sie hätte ein paar
Tropfen Flüssigkeit gut gebrauchen können. Ihr Hals fühlte sich an, als stünde
er in Flammen.
Aber wunder Hals hin oder her, ihr
Plan ging auf, als wäre Zauberei im Spiel. Als sie den Mund öffnete, um ihre
Stimme auszuprobieren, hätte der Laut, der herauskam, sogar einen Frosch
beschämt.
Wahrscheinlich wäre es einem Frosch,
der etwas auf sich hielt, sogar peinlich gewesen, so ein Geräusch von sich zu
geben. Kein Zweifel, sie hatte sich für eine gewisse Zeitspanne ihrer Stimme
beraubt. Hervorragend. Dieser Mann konnte ihr so viele Fragen stellen, wie er
wollte; sie würde nicht in der Lage sein, auch nur eine einzige zu beantworten.
Nur um sicherzugehen, dass ihr
Gefängniswärter nicht glaubte, dass sie alles nur vortäuschte, öffnete sie den
Mund weit, drehte den Kopf, so dass das Sonnenlicht hineinfiel, und besah sich
ihren Rachen im Spiegel.
Leuchtend rot. Ihr Rachen sah
schrecklich aus. Und die Schatten unter ihren Augen, die sie einer durchwachten
Nacht verdankte, verschlimmerten ihr Aussehen weiter.
Caroline wäre am liebsten vor Freude
im Zimmer herumgehüpft. Wenn es doch nur auch eine Möglichkeit gäbe, Fieber
vorzutäuschen, dass sie noch kränker erschiene. Vermutlich könnte sie das
Gesicht dicht vor eine brennende Kerze halten in der Hoffnung, ihre Haut würde
sich dadurch unnatürlich erwärmen, aber wenn er hineinkäme und sie dabei
ertappte, wäre es schwer zu erklären, warum sie an so einem strahlenden Morgen
eine Kerze angezündet hatte.
Nein, der raue Hals samt
verschwundener Stimme mussten ausreichen. Und wenn nicht, dann konnte sie das
auch nicht ändern, denn in dem Augenblick erklangen seine festen Schritte auf
dem Flur.
Eilig durchquerte sie das Zimmer und
kroch wieder in ihr Bett, zog die Decke bis zum Kinn. Sie hustete einige Male,
kniff sich in die Wangen, damit sie gerötet erschienen, dann hustete sie
wieder.
Und
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