Julia Quinn
war. Es war dann beinahe so,
als hätte sie ihren alten Marcus wieder, den, der praktisch auf Whipple Hill
gelebt hatte. Er gehörte damals wirklich zur Familie – sogar bei ihren
schrecklichen weihnachtlichen Krippenspielen machte er mit. Er hatte meist
einen Baum gespielt, was sie aus irgendeinem Grund immer sehr lustig fand.
Diesen Marcus hatte sie gemocht. Sie hatte ihn angebetet.
Aber vor ein paar Jahren war er verschwunden, hatte dem stillen,
strengen Mann Platz gemacht, den der Rest der Welt als Lord Chatteris kannte.
Es war wirklich traurig. Für sie, vor allem aber wohl für ihn selbst.
Sie aß ihren Kuchen auf, versuchte dabei, seinen amüsierten Blick
zu ignorieren, und nahm sein Taschentuch entgegen, um sich die Krümel von den
Händen zu wischen. »Danke«, sagte sie und gab es zurück.
Er nickte und fragte: »Wann willst du
...«
Ein lautes Klopfen am Fenster unterbrach ihn.
»Verzeihung, Sir«, sagte eine Stimme, die ihr nicht ganz unbekannt
vorkam, »ist das Lady Honoria?«
Honoria beugte sich vor, linste an Marcus
vorbei und sah einen Lakai in vertrauter Livree. »Das ist ja ...« Sie
hatte keine Ahnung, wie er hieß, aber er hatte die Mädchen auf ihren Einkaufsbummeln
begleitet. »Er gehört zu den Royles.« Sie warf Marcus ein flüchtiges,
verlegenes Lächeln zu und erhob sich dann in gebückter Haltung, um aus der
Kutsche klettern zu können. »Ich muss gehen. Meine Freundinnen werden schon auf
mich warten.«
»Ich besuche dich morgen.«
»Was?« Sie erstarrte und beugte sich vor wie eine
bucklige alte Frau.
Spöttisch hob er eine Augenbraue. »Deine Gastgeberin wird doch
bestimmt nichts dagegen haben.«
Mrs Royle sollte etwas dagegen haben, dass ein unverheirateter
Earl unter dreißig ihrem Haus einen Besuch abstatten wollte? Honoria würde Mühe
haben, sie davon abzuhalten, eine Willkommensparade zu veranstalten.
»Das wäre bestimmt ganz reizend«, brachte
sie hervor.
»Gut.« Er räusperte sich. »Wir haben uns viel zu lang nicht
mehr gesehen.«
Überrascht sah sie ihn an. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass
er auch nur einen Gedanken an sie verschwendete, wenn sie nicht gerade beide
zur Saison in London waren.
»Ich bin froh, dass es dir gut
geht«, sagte er abrupt.
Honoria hatte keine Ahnung, warum diese Bemerkung
sie so beunruhigte, aber sie beunruhigte sie.
Sie
beunruhigte sie sogar sehr.
Marcus sah zu, wie der Lakai der Royles Honoria zu dem Laden auf der
anderen Straßenseite geleitete. Sobald er sich überzeugt hatte, dass sie sicher
angekommen war, klopfte er dreimal an die Trennwand, um dem Kutscher zu
signalisieren, dass er weiterzufahren wünschte.
Es hatte ihn überrascht, sie hier in
Cambridge zu sehen. Es stimmte schon, normalerweise verfolgte er nicht so
genau, was Honoria tat, doch er hätte schon angenommen, dass er davon erfuhr,
wenn sie sich in der Nähe seines Zuhauses aufhielt.
Er sollte wohl doch anfangen, für die Londoner Saison zu planen.
Er hatte nicht gelogen, als er ihr sagte, er habe zu tun. auch wenn es
vermutlich ehrlicher gewesen wäre, zuzugeben, dass er sich einfach lieber auf
dem Lande aufhielt. Seine Anwesenheit in Cambridgeshire war nicht
unverzichtbar, doch vieles wurde leichter dadurch.
Ganz zu schweigen davon, dass er die Saison hasste. Doch wenn
Honoria so wild entschlossen war, sich einen Ehemann zu suchen, würde er nach
London reisen müssen, um aufzupassen, dass sie keinen verhängnisvollen Fehler
beging.
Schließlich hatte er es geschworen.
Daniel Smythe-Smith war sein bester Freund gewesen. Nein, sein
einziger Freund, sein einzig wahrer Freund.
Tausend Bekannte und ein echter Freund.
So war sein Leben.
Doch Daniel war weg, irgendwo in Italien, wenn der letzte Brief
noch aktuell war. Und so schnell würde er auch nicht zurückkommen, nicht
solange der Marquess of Ramsgate noch am Leben war und nach Rache dürstete.
Was für ein verdammtes Fiasko das Ganze gewesen war. Marcus hatte
Daniel davor gewarnt, mit Hugh Prentice Karten zu spielen. Aber nein, Daniel hatte nur
gelacht; er wollte unbedingt sein Glück versuchen. Prentice gewann immer.
Immer. Er war brillant, das wusste jeder. Egal ob es sich um Mathematik,
Physik oder Geschichte handelte – am Schluss war stets er es, der die
Professoren in Cambridge belehrte. Hugh Prentice schummelte nicht beim
Spielen, er gewann immer, weil er einfach ein unglaublich gutes Gedächtnis
hatte und einen scharfen, analytischen Geist, der die Welt in Mustern und
Gleichungen
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