Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
nahm. Damals hatten Massen schluchzender Menschen dem großen Führer das letzte Geleit gegeben, denn Stalin war schrecklich und unerreichbar gewesen wie Gott im Alten Testament, das die Sowjetmacht außer Kraft gesetzt hatte. Breschnew dagegen war wie alle gewesen – sehr irdisch, nicht boshaft, ein korrupter Sünder. Als er in den letzten Jahren deutlich nachließ, lachten die Leute im Lande zuweilen über ihren Generalsekretär. Auch in Dnipropetrowsk. Es war kein fröhliches Lachen, denn überall konnte man sehen, dass er das Land in eine Sackgasse geführt hatte.
Die Erdöldollar flogen buchstäblich zum Schornstein hinaus – für die Unterstützung der »Befreiungsbewegungen« in der Welt und für das Wettrüsten. Die Wirtschaft pfiff auf dem letzten Loch. Selbst der Propagandakrieg endete in einem Fiasko. Der sowjetische Mensch träumte von Mode und Technik aus dem Westen, und westliche Rundfunkstationen waren seit Langem die einzigen verlässlichen Informationsquellen über das, was in der Welt und im Lande geschah. Eine Dienst- oder Touristenreise nach Paris galt als großer Erfolg im Leben. Nicht nur Juden, sondern auch Russen begannen an Auswanderung zu denken. Das atomare Wettrüsten sorgte für gähnende Leere in der Staatskasse.
Nach Breschnew übernahm Juri Andropow die Führung des Landes. Schon als KGB-Chef hatte er Informationen über die Korruption in der Umgebung des lebensfrohen Generalsekretärs gesammelt. Jetzt griff er zu. Als Erste fielen die Dnipropetrowsker, die Breschnew am nächsten gestanden hatten – allesamt hohe Chefs in Partei und bewaffneten Organen. Innenminister Schtscholokow nahm sich das Leben. Unter Andropow wurde die Elite in raschem Tempo ausgewechselt. Dazu trugen mehrere Strafprozesse bei, die mit Todesurteilen gegen die Angeklagten endeten – der Fall »Fischwirtschaft«, der Fall »Brillantenschmuggel« oder der Fall »Sotschi«. Die Schuld der zum Tode und zu langen Haftstrafen Verurteilten bestand vor allem darin, dass sie nicht in die neue Zeit passten. Die bisherigen Eliten gingen hinter Gitter oder in den Tod, weil Breschnew nicht mehr war. Sie hatten keine Zeit, sich auf die neuen Spielregeln einzustellen. Genauer gesagt, man ließ ihnen diese Zeit nicht.
Bei internen Vorträgen vor ausgewähltem Publikum verkündeten die Propagandisten, Andropow schaffe jetzt »Ordnung« und rechne mit der »Breschnew-Mafia« ab. Unterschlagung in riesigem Umfang sei der Hauptgrund für die allgemeine Armut im Lande. Damit versetzte der KGB den »Dnipropetrowskern« einen vernichtenden Schlag. Der Korruption für schuldig befunden, mussten sie aus dem Kreml und aus der Politik verschwinden.
Aber das Leben in der UdSSR wurde davon nicht besser. Bald zeigte sich, dass die Hauptursache nicht in der Korruption, sondern in anderen, tiefer liegenden Problemen des kommunistischen Systems lag.
Gorbatschow brachte die Sache zum Abschluss. Als er ans Ruder kam, wurde Breschnews Zeit als Stagnationsperiode und dessen Kurs als gerader Weg in den Abgrund bewertet.
Die Sowjetunion zerfiel. Die Ukraine wurde unabhängig. Fast schien es, als habe Dnipropetrowsk seine Sonderstellung für immer verloren.
Aber so einfach war es nicht.
Zunächst konnte die Stadt ihr enormes Gewicht gar nicht verlieren, denn sie blieb ein Zentrum der Rüstungsindustrie. Außerdem ist die Elite der Nomenklatura wie die Hydra im Märchen: Wenn man ihr einen Kopf abschlägt, wachsen sogleich mehrere neue nach.
Dnipropetrowsk war dafür geradezu ein klassisches Beispiel.
Wie muss man sich einen Clan zur Sowjetzeit vorstellen? Als ein Geflecht offizieller und inoffizieller Beziehungen, die in gemeinsamen Dienstjahren entstehen und fürs ganze Leben halten. Im ideologischen Bereich heißt das Treue zur Partei und bedenkenlose Ausführung aller ihrer Weisungen. Was die Arbeit betrifft, so muss man in der Lage sein, sinnlose, leicht zu merkende, passende und unpassende Losungen der Partei geschickt anzuwenden. Im persönlichen Bereich ist unerschütterliche Treue zum Vorgesetzten in jeder Lebenslage zu demonstrieren. Hier haben sich feste Traditionen herausgebildet – man muss Trinkgelage im engen Kreis lieben, stets den passenden Trinkspruch zur Hand haben, die richtigen Witze zum Besten geben können, Familienfreundschaft halten und zur rechten Zeit mit einem guten Geschenk zur Stelle sein. Und natürlich muss man gemeinsame Saunagänge lieben. Unter Breschnew wurde es Brauch, die wichtigsten Machtfragen
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