Julia
bedeutet Erde auf dem Platz. Boden.« Er ließ ein wenig davon auf meine Hand rieseln. »Hier, du musst es fühlen. Riechen. Es bedeutet Palio.« Während wir das nächste Café ansteuerten und uns dort niederließen, wies er mich auf die Arbeiter hin, die gerade rund um den Campo gepolsterte Absperrungen aufstellten. »Es existiert keine Welt jenseits der Palio-Grenzen.«
»Wie poetisch«, bemerkte ich und wischte mir dabei verstohlen den Sand von den Händen. »Zu schade, dass Shakespeare so auf Verona abfuhr.«
Er schüttelte den Kopf. »Wird dir dein ewiger Shakespeare eigentlich nie zu viel?«
Beinahe hätte ich erwidert: Hey, du hast damit angefangen! Zum Glück schaffte ich es, mir die Bemerkung zu verkneifen. Es war nicht nötig, ihn daran zu erinnern, dass ich bei unserer ersten Begegnung im Garten seiner Großeltern noch Windeln getragen hatte.
Für einen Moment starrten wir uns an und fochten wegen des Barden und so vieler anderer Dinge einen stummen Kampf aus, bis endlich die Kellnerin kam, um unsere Bestellung entgegenzunehmen. Wieder versuchte ich, den Zauber des Ortes zu ignorieren, nicht daran zu denken, wie attraktiv der Mann war, mit dem ich nun über die sonnenerleuchtete Piazza schaute. Um nicht ganz den Faden zu verlieren, beugte ich mich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch, um Alessandro zu suggerieren, dass ich für Verhandlungen nicht zugänglich war. »Ich warte immer noch darauf«, erinnerte ich ihn, »dass du mich über dich und Luciano Salimbeni aufklärst. Lassen wir den Teil mit Karl dem Großen doch einfach weg und kommen wir gleich ...«
In dem Moment klingelte sein Handy. Nach einem Blick auf das Display entschuldigte er sich und verließ den Tisch. Zweifellos kam es ihm sehr gelegen, dass er seine Beichte noch einmal verschieben musste. Während ich so dasaß und seine Gestalt aus einiger Entfernung beobachtete, wurde mir schlagartig klar, wie unwahrscheinlich es war, dass tatsächlich er mein Hotelzimmer verwüstet hatte. Obwohl ich ihn erst eine Woche kannte, hätte ich jeden Eid darauf geleistet, dass weitaus mehr nötig war als ein mittleres Schlamassel, um diesen Mann aus der Ruhe zu bringen. Obwohl er im Irak fast ums Leben gekommen wäre, hatte ihn diese Erfahrung definitiv nicht gebrochen, ganz im Gegenteil. Falls er also tatsächlich einen Grund gehabt hätte, in meinem Zimmer herumzuschnüffeln, dann hätte er bestimmt nicht wie ein Beutelteufel mein Gepäck durchwühlt und meine getragenen Unterhosen vom Kronleuchter hängen lassen. Das ergab einfach keinen Sinn.
Als Alessandro fünf Minuten später zum Tisch zurückkehrte, schob ich ihm mit einem - wie ich hoffte - verzeihenden Lächeln seinen Espresso hin. Er aber würdigte mich kaum eines Blickes, sondern rührte gedankenverloren ein wenig Zucker hinein. Irgendetwas an seinem Verhalten hatte sich verändert. Instinktiv spürte ich, dass ihm der Anrufer, wer auch immer es gewesen sein mochte, etwas Beunruhigendes mitgeteilt hatte. Etwas, das mit mir zusammenhing »Also, wo waren wir stehengeblieben?«, fragte ich leichthin. »Ach ja! Karl der Große war sehr groß ...«
»Warum«, konterte Alessandro in einem Ton, der mir sofort sagte, dass seine Ruhe nur gespielt war, »erzählst du mir nicht von deinem Freund auf dem Motorrad?« Als er merkte, dass ich vor lauter Verblüffung nicht wusste, was ich antworten sollte, fügte er trocken hinzu: »Wenn ich mich recht erinnere, hast du mal erwähnt, dass dich ein Kerl auf einer Ducati verfolgt.«
»Oh!« Ich brachte ein Lachen zustande. »Den meinst du! Keine Ahnung. Ich habe ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Schätzungsweise waren meine Beine nicht lang genug.«
Alessandro verzog keine Miene. »Lang genug für Romeo.«
Ich hätte fast meinen Cappuccino verschüttet. »Moment mal! Willst du damit andeuten, ich werde von deinem alten Rivalen aus Kindertagen verfolgt?«
Er wandte den Blick ab. »Ich will gar nichts andeuten. Reine Neugier.«
Für einen Moment herrschte zwischen uns peinliches Schweigen. Alessandro war anzusehen, dass er über irgendetwas brütete, und ich zermarterte mir das Gehirn, worum es sich dabei handeln könnte. Offenbar wusste er über die Ducati Bescheid, hatte aber keine Ahnung, dass sie von meiner Schwester gefahren wurde. Vielleicht war ihm bekannt, dass das Motorrad am Vortag von der Polizei beschlagnahmt worden war, nachdem am Fuß des Mangia-Turms mehrere Beamte vergeblich darauf gewartet hatten, dass der Fahrzeughalter
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