Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
Vom Netzwerk:
verschwinde.«
    Langsam streckte Alessandro die Hand aus und legte sie an meine Wange. »Aber nun bist du hier.«
    Die Berührung seiner Finger ging mir durch und durch. Ich musste mit meiner ganzen Willenskraft gegen den Drang ankämpfen, mich in seine Hand sinken zu lassen. Obwohl ich so viele stichhaltige Gründe dafür hatte, ihm nicht zu trauen - geschweige denn mit ihm zu flirten -, fiel mir nichts anderes ein als: »Das würde Shakespeare nicht gefallen.«
    Durch meinen atemlosen Kommentar nicht im Geringsten entmutigt, strich mir Alessandro mit einem Finger langsam über die Wange, um schließlich an meinem Mundwinkel zu verharren. »Shakespeare brauchte es ja nicht zu erfahren.«
    Ich blickte ihn an, und was ich dabei in seinen Augen sah, war mir so fremd wie eine ferne Küste nach endlosen Nächten auf hoher See. Hinter dem grünen Dickicht des Dschungels spürte ich die Gegenwart eines mir unbekannten Wesens, einer urzeitlichen Kreatur, die nur darauf wartete, dass ich an Land kam. Was er in meinen Augen sah, weiß ich nicht, doch was auch immer es war, veranlasste ihn dazu, die Hand sinken zu lassen.
    »Warum hast du Angst vor mir?«, flüsterte er. »Fammi capire. Erkläre es mir, damit ich es verstehe.«
    Ich zögerte. Das war meine Chance. »Ich weiß nichts über dich.«
    »Dann frage mich doch.«
    »Wo ...« - ich deutete auf die Stelle an seiner Brust, an der ich die Kugel vermutete - »ist das passiert?«
    Er schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als er sie wieder aufschlug, ließ er mich direkt in seine Seele blicken. »Oh, das wird dir bestimmt gefallen. Im Irak.«
    Dieses eine Wort bewirkte, dass mein ganzer Zorn und Argwohn vorübergehend von einer Lawine des Mitgefühls verschüttet wurde. »Möchtest du darüber sprechen?«
    »Nein. Nächste Frage.«
    Es dauerte einen Augenblick, bis ich verdaut hatte, dass es mir - bemerkenswert mühelos - gelungen war, Alessandro sein großes Geheimnis zu entlocken, oder zumindest eines davon. Allerdings hielt ich es für höchst unwahrscheinlich, dass er den Rest genauso bereitwillig preisgeben würde, insbesondere, was den Einbruch in mein Zimmer betraf.
    »Bist du ...«, begann ich, verlor aber sofort wieder den Mut. Da kam mir ein anderer Aspekt in den Sinn, und ich fragte stattdessen: »Besteht irgendeine Verbindung zwischen dir und Luciano Salimbeni?«
    Alessandro wirkte wie vom Donner gerührt. Offensichtlich hatte er mit etwas völlig anderem gerechnet. »Warum? Glaubst du, er hat Bruno Carrera getötet?«
    »Ich war eigentlich der Meinung«, antwortete ich so ruhig wie möglich, »dass Luciano Salimbeni tot ist, aber vielleicht hat man mich da falsch informiert. Nach allem, was passiert ist, glaube ich, dass ich ein Recht darauf habe, es zu erfahren. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass er meine Eltern ermordet hat.« Langsam zog ich erst den einen und dann den anderen Fuß aus dem Brunnen. »Du bist ein Salimbeni. Eva Maria ist deine Patin. Bitte erklär mir, wie das alles zusammenhängt.«
    Als Alessandro merkte, dass es mir damit ernst war, fuhr er sich stöhnend mit beiden Fingern durchs Haar. »Ich glaube nicht ...«
    »Bitte.«
    »Na schön!« Er holte tief Luft, als wäre er irgendwie wütend -wahrscheinlich mehr auf sich selbst als auf mich. »Ich werde es dir erklären.« Offenbar wusste er nicht recht, wo er anfangen sollte, denn er überlegte erst eine ganze Weile, ehe er schließlich fragte: »Kennst du Karl den Großen?«
    »Karl den Großen?«, wiederholte ich, weil ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte.
    »Ja«, nickte Alessandro. »Er war ... sehr groß.«
    Ausgerechnet in dem Moment knurrte mein Magen, und mir wurde klar, dass ich seit dem Mittagessen am Vortag nichts Anständiges mehr zu mir genommen hatte - es sei denn, man betrachtete eine Flasche Chianti, ein Glas eingelegte Artischocken und ein halbes Schokoladen-Panforte als ein Abendessen.
    »Wie wäre es«, schlug ich vor, während ich meine Schuhe anzog, »wenn du mir den Rest in einem Café erzählst?«
     
    Auf dem Campo waren bereits die Vorbereitungen für den Palio im Gange. Als wir an einem Sandhaufen vorbeikamen, der für die Rennbahn bestimmt war, ging Alessandro in die Knie und hielt mir eine Handvoll davon hin. »Siehst du?« Seine Stimme klang fast andächtig, als handelte es sich um den feinsten Safran. »La terra in piazza.«
    »Lass mich raten. Bedeutet es, dieser Platz ist der Mittelpunkt des Universums?«
    »Fast. Es

Weitere Kostenlose Bücher