Julia
gegenwärtige Situation auf Dauer nicht tragbar war. Um das Haus wirklich wieder bewohnbar zu machen, mussten wir eine Menge Geld in Papierkram und Handwerker investieren, und selbst wenn wir das schafften, blieb die Frage, was für ein Leben wir dann führen würden. Wie Flüchtlinge dazu gezwungen, uns zu verstecken, würden wir uns immer mehr in Schulden stürzen und uns dabei ständig fragen, wann unsere Vergangenheit uns wohl wieder einholte.
»Entweder«, meinte Janice, während sie uns Wein nachschenkte, »wir bleiben hier - was aber nicht geht -, oder wir flüchten zurück in die Staaten - was erbärmlich wäre -, oder wir begeben uns auf Schatzsuche und schauen mal, was passiert.«
»Vergiss nicht«, wandte ich ein, »dass das Buch für sich allein genommen nutzlos ist. Um den Geheimcode zu entschlüsseln, brauchen wir Moms Skizzenbuch.«
»Und genau aus dem Grund«, antwortete Janice und griff in ihre Handtasche, »habe ich es mitgebracht. Tadaaa!« Sie legte das Skizzenbuch vor mir auf den Schreibtisch. »Noch Fragen?«
Ich musste laut lachen. »Weißt du, ich glaube, ich liebe dich!«
Janice bemühte sich nach Kräften, nicht zu lächeln. »Nun mach aber mal halblang! Wir wollen es doch nicht gleich übertreiben.«
Nachdem wir die beiden Bücher nebeneinanderliegen hatten, fiel es uns nicht schwer, den Code zu knacken. Im Grunde war es gar kein richtiger Code, sondern nur eine raffiniert versteckte Liste von Seiten-, Zeilen- und Wortnummern. Während Janice mir die Zahlen ansagte, die an den Rand des Skizzenbuchs gekritzelt waren, blätterte ich durch die Ausgabe von Romeo und Julia und las die vielen einzelnen Textstellen vor, aus denen sich die Nachricht unserer Mutter zusammensetzte. Sie lautete folgendermaßen:
MEINE LIEBE DIES BUCH
DAS GOLDNE LEHR IN GOLDNEN SPANGEN HÄLT VON
KÖSTLICH EDELSTEIN
WIE UFER VON DEM FERNSTEN MEER BESPÜLT ICH WAGTE MICH NACH SOLCHEM KLEINOD HIN GEHT MIT ROMEOS BEICHTGER
VOR DER ZEIT GEOPFERT SUCHT SPÄHT ERFORSCHT MIT GERÄT
DAS DIE GRÄBER DER TOTEN AUFZUBRECHEN DIENT
SO MÜSST ES SCHLECHTERDINGS VERSTOHLEN SEIN
HIER LIEGT JULIA
GLEICH EINEM ARMEN
SEIT VIELEN HUNDERT JAHREN
UNTER
HEILGE
MUTTER
WO
KLEINE STERNE
DES HIMMELS ANTLITZ SO VERSCHÖNEN
BEGEBT EUCH
ZU
HEILGE
MUTTER LEITER
BEI EINER SCHWESTERNSCHAFT VON HEILGEN NONNEN
IN EINEM HAUS IN WELCHEM DIE BÖSE SEUCHE HERRSCHTE SIEGELTEN DIE TÜRE ZU FRAU HEILGE VÖGEL
DEN KRANKEN IN DIESER STADT HIER ZUSPRICHT
KAMMER
BETT
HEILIGER
SCHREIN
IST
STEINERN
TÜR
ZU
GEWÖLBTE GRUFT
O LASS UNS FORT VON HIER
HOL EIN BRECHEISEN MIR
HINWEG MIT
DEM
SCHWARZ UNTER DEM ALTAR
UND LOS GEHT'S, MÄDELS!
Als wir am Ende der langen Nachricht angelangt waren, lehnten wir uns beide zurück und wechselten einen ratlosen Blick. Von unserem anfänglichen Enthusiasmus war nicht mehr viel übrig.
»Also, ich hätte da mal zwei Fragen«, meinte Janice. »Erstens: Warum zum Teufel haben wir das nicht schon viel früher gemacht? Und zweitens: Was hat Mom wohl geraucht?« Sie funkelte mich an und griff nach ihrem Weinglas. »Mir ist natürlich klar, dass dies Buch das Versteck für ihren Geheimcode war, und dass sie uns damit eine Art Wegbeschreibung für unsere Schatzsuche nach Julias Grab und köstlich Edelstein liefern wollte, aber ... wo genau sollen wir mit dem Buddeln beginnen? Und was hat das mit der Seuche und dem Brecheisen auf sich?«
»Ich habe da so ein Gefühl«, antwortete ich, während ich hin und her blätterte, um ein paar Stellen noch einmal zu lesen, »dass sie von der Kathedrale in Siena spricht. Heiige Mutter ... damit kann nur die Jungfrau Maria gemeint sein. Und die Stelle mit den kleinen Sternen, die das Antlitz des Himmels so verschönen, klingt mir sehr nach der Innenseite der Kathedralenkuppel. Sie ist blau gestrichen und mit kleinen goldenen Sternen bemalt.« Als ich Janice ansah, war ich plötzlich ganz aufgeregt. »Mal angenommen, das Grab befindet sich dort? Maestro Lippi hat doch gesagt, Salimbeni habe Romeo und Giulietta an einem höchst heiligen Ort bestattet. Was könnte heiliger sein als eine Kathedrale?«
»Klingt für mich sehr plausibel«, räumte Janice ein, »aber was ist mit der ganzen Seuchengeschichte und der Schwesternschaft von heiigen Nonnen? Das hört sich nicht so an, als hätte es etwas mit der Kathedrale zu tun.«
»Heiige, Mutter, Leiter ...«, murmelte ich, während ich ein weiteres Mal das Buch durchblätterte, »in einem Haus, in welchem die
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