Julia
wir noch weitere Kerzen brennen hatten, wirkte der Raum plötzlich viel düsterer, als würde die Dunkelheit von allen Seiten auf uns zukriechen.
»Sie hat gewusst, dass sie in Gefahr war«, antwortete ich mit seltsam hohl klingender Stimme, »und deswegen entsprechende Vorkehrungen getroffen: indem sie den Code in dem Buch versteckte, das Buch in der Truhe, und die Truhe in der Bank.«
»Damit hätten wir das Rätsel also gelöst«, versuchte Janice einen forscheren Ton anzuschlagen. »Was hält uns jetzt noch davon ab ...«
»In ein denkmalgeschütztes Gebäude einzudringen und die Zelle von Santa Caterina mit einem Brecheisen zu verwüsten?« Ich warf beide Hände in die Luft. »Tja, ich weiß auch nicht!«
»Nein, allen Ernstes. Mom wollte schließlich auch, dass wir es machen.«
»So einfach ist das nicht.« Ich fingerte an dem Buch herum und versuchte mir ein weiteres Mal den genauen Wortlaut der Nachricht ins Gedächtnis zu rufen. »Laut Mom sollen wir mit Romeos Beichtger gehen, der vor der Zeit geopfert wurde. Wer kann das sein? Da kommt eigentlich nur Bruder Lorenzo in Frage. Natürlich nicht der echte, aber vielleicht seine neue ... Inkarnation. Was bedeutet, dass wir recht hatten: Der Alte weiß etwas darüber, wo sich die Krypta und das Grab befinden - irgendetwas Entscheidendes, das selbst Mom nicht in Erfahrung bringen konnte.«
»Was schlägst du also vor?«, wollte Janice wissen. »Dass wir Bruder Lorenzo entführen und unter einer Hundert-Watt-Birne verhören? Vielleicht hast du irgendwas falsch verstanden. Lass uns das Ganze einfach noch mal durchgehen, jede für sich, und dann schauen, ob wir auf dasselbe Ergebnis kommen ...« Sie öffnete eine Schreibtischschublade nach der anderen. »Hier werden doch wohl irgendwo ein paar Stifte herumliegen! ... Moment mal! Was haben wir denn da?« Sie verschwand fast mit dem Kopf in der Schublade. Offenbar versuchte sie etwas herauszuziehen, das sich verklemmt hatte. Als es ihr schließlich gelang, richtete sie sich mit triumphierender Miene auf. Das Haar fiel ihr wirr ins Gesicht. »Sieh mal! Ein Brief!«
Aber es war kein Brief, sondern ein Umschlag voller Fotos.
Nachdem wir uns Moms Fotos angesehen hatten, verkündete Janice, wir brauchten jetzt mindestens noch eine weitere Flasche Wein, um die Nacht zu überstehen, ohne endgültig wahnsinnig zu werden. Während sie hinunterging, um die Flasche zu holen, wandte ich mich erneut den Fotos zu. Immer noch völlig schockiert und mit zitternden Händen legte ich sie alle nebeneinander auf den Schreibtisch - in der Hoffnung, sie irgendwie dazu zu bringen, eine andere Geschichte zu erzählen.
Aber Moms Machenschaften in Italien ließen sich nur auf eine einzige Art interpretieren. Egal, wie wir es drehten oder wendeten, die Hauptakteure blieben dieselben: Diane Lloyd war nach Italien gekommen, wo sie für Professor Tolomei zu arbeiten begann, einen jungen Playboy in einem gelben Ferrari kennenlernte, schwanger wurde, Professor Tolomei heiratete, Zwillingsmädchen zur Welt brachte, einen Hausbrand überlebte, der ihren ältlichen Ehemann das Leben kostete, und dann wieder bei dem jungen Playboy landete, der auf jedem einzelnen Foto mit den Zwillingen - also uns - derart glücklich aussah, dass wir übereinstimmend zu dem Schluss kamen, er müsse unser leiblicher Vater sein.
Der Playboy war Umberto.
»Das ist alles so irreal!«, stöhnte Janice, die gerade mit Flasche und Korkenzieher zurückkam. »Wie konnte er uns nur all die Jahre den Butler vorspielen und nie ein Wort darüber verlieren? Das ist so verdammt abgefahren!«
»Obwohl«, wandte ich ein, während ich nach einem Foto griff, das ihn mit uns beiden zeigte, »er immer unser Dad war. Auch wenn wir ihn nicht so genannt haben. Er war immer ...« Ich konnte nicht weitersprechen.
Erst jetzt blickte ich hoch und merkte, dass Janice ebenfalls weinte, auch wenn sie sich die Tränen gleich wieder wütend wegwischte, weil sie Umberto den Triumph nicht gönnte. »Was für ein Mistkerl!«, schimpfte sie. »All die Jahre hat er uns gezwungen, mit dieser Lüge zu leben. Und jetzt plötzlich ...« In dem Moment brach der Korken in zwei Teile, und sie stieß ein wütendes Grunzen aus.
»Zumindest«, ergriff ich wieder das Wort, »erklärt das, warum er von der goldenen Statue wusste. Offenbar hat Mom ihm die ganze Geschichte erzählt. Wenn die beiden wirklich ... ahm, zusammen waren, dann wusste er bestimmt auch von der Truhe mit den Papieren. Was
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