Julia
die Arme in die Luft und hätte beinahe mit der Krücke eine Skulptur umgestoßen. »Ich will alles hören. Meine Frau ... wir müssen zu meiner Frau. Sie wird sich so freuen. Sie ist im Haus ... Salvatore! ... Oh, wo ist er bloß?«
Zehn Minuten später schoss ich auf dem Hintersitz eines rotschwarzen Rollers aus der Piazzetta del Castellare. Beim Aufsteigen hatte mir Peppo Tolomei mit derselben Galanterie auf die Sitzbank geholfen wie ein Magier seiner hübschen jungen Assistentin in die Kiste, die er anschließend in zwei Stücke sägen will. Sobald ich seine Hosenträger fest umklammert hielt, sausten wir aus der überdachten Gasse, ohne für irgend jemanden zu bremsen.
Peppo hatte darauf bestanden, das Museum auf der Stelle zu schließen und mich mit nach Hause zu nehmen, damit ich seine Frau Pia und alle, die sonst noch da waren, kennenlernen konnte. In der irrigen Annahme, dass das Zuhause, von dem er sprach, gleich um die Ecke lag, hatte ich die Einladung gerne angenommen. Erst jetzt, als wir auf dem Corso am Palazzo Tolomei vorbeiflogen, erkannte ich meinen Irrtum.
»Ist es weit?«, schrie ich und versuchte mich dabei festzuhalten, so gut es ging.
»Nein-nein-nein!«, antwortete Peppo. Nur um Haaresbreite verfehlte er eine Nonne, die einen alten Mann im Rollstuhl schob. »Keine Sorge! Wir werden alle anrufen und die Wiedervereinigung unserer Familie so richtig groß feiern!« Ohne darauf zu achten, dass ich ihn bei dem Fahrtwind kaum verstehen konnte, begann er aufgeregt sämtliche Familienmitglieder aufzuzählen, die ich in Kürze kennenlernen würde. Vor lauter Vorfreude bekam er überhaupt nicht mit, dass wir auf Höhe des Palazzo Salimbeni direkt durch eine Handvoll Wachleute fuhren, so dass diese alle gezwungen waren, zur Seite zu springen.
»Oje!«, rief ich und fragte mich gleichzeitig, ob Peppo bewusst war, dass unsere große Familienfeier wahrscheinlich im Knast stattfinden würde. Doch die Wachleute machten keine Anstalten, uns aufzuhalten, sondern starrten uns lediglich hinterher wie kurz angeleinte Hunde einem flauschigen Eichhörnchen, das vor ihrer Nase frech über die Straße spazierte. Unglücklicherweise handelte es sich bei einem von ihnen um Eva Marias Patensohn Alessandro, der mich mit ziemlicher Sicherheit erkannte, denn beim Anblick meiner herabbaumelnden Beine schaute er gleich noch ein zweites Mal hin. Wahrscheinlich fragte er sich, was aus meinen Flip-Flops geworden war.
»Peppo!« schrie ich und zerrte dabei an den Hosenträgern meines Cousins. »Ich möchte nicht verhaftet werden, okay?«
»Keine Sorge!«, antwortete Peppo, während er um eine Ecke bog und gleichzeitig beschleunigte, »ich bin zu schnell für die Polizei!« Wenige Augenblicke später schossen wir durch ein altes Stadttor wie ein Pudel durch einen Reifen und flogen geradewegs hinein in das Kunstwerk eines voll erblühten toskanischen Sommers.
Während ich hinter ihm saß und über seine Schulter auf die Landschaft hinausblickte, wünschte ich mir so sehr, von einem Gefühl der Vertrautheit erfüllt zu werden, einem Gefühl des Nachhausekommens. Doch alles um mich herum war neu: die warme, nach Kräutern und Gewürzen duftende Luft, die mir entgegenschlug, die sanft geschwungene Hügellandschaft -selbst Peppos Rasierwasser enthielt irgendeinen fremdartigen Bestandteil, den ich in dieser Situation als seltsam attraktiv empfand.
Doch wie viel behalten wir aus den ersten drei Jahren unseres Lebens tatsächlich in Erinnerung? Manchmal hätte ich schwören können, mich daran zu erinnern, wie ich ein Paar nackte Beine umarmte, die definitiv nicht Tante Rose gehörten. Außerdem waren Janice und ich uns beide sicher, eine große Glasschale voller Weinkorken im Gedächtnis zu haben, aber abgesehen davon war schwer zu sagen, welche Bruchstücke wohin gehörten. Wenn es uns hin und wieder gelang, Erinnerungen aus unserer Kleinkinderzeit ans Licht zu befördern, endete das immer in Verwirrung. »Ich bin sicher, dass der wackelige Schachtisch in der Toskana stand«, beharrte Janice stets. »Wo hätte er denn sonst stehen sollen? Tante Rose hat nie so einen Tisch besessen.«
»Wie erklärst du dir dann«, konterte ich jedes Mal unweigerlich, »dass der Mann, der dich geohrfeigt hat, nachdem du den Tisch umgestoßen hattest, Umberto war?«
Dafür hatte auch Janice keine Erklärung. Am Ende murmelte sie nur: »Vielleicht war es ja doch ein anderer. Für eine Zweijährige sehen alle Männer gleich aus.« Woraufhin sie
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