Julia
der gegenüberliegenden Mauer eine modernere Art von Tür. Als ich ihren künstlerischen, schwarzweißen Türgriff niederdrückte, schwang sie auf. Ich zögerte kurz, weil ich nicht wusste, wie man sich in Siena angemessen verhielt, wenn man ein Privathaus betrat. Währenddessen forderte mich die Frau am Fenster weiter zum Eintreten auf -offenbar fand sie mich ungewöhnlich schwer von Begriff -, so dass ich am Ende tat, wie mir geheißen.
»Hallo?« Ich tat einen schüchternen Schritt über die Schwelle und spähte in die Dunkelheit. Sobald sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah ich, dass ich in einer Diele mit sehr hoher Decke stand und von Wandteppichen, Gemälden und antiken, in Glasvitrinen ausgestellten Kunstgegenständen umgeben war. Ich ließ den Türknauf los und rief: »Jemand zu Hause? Mrs. Tolomei?« Doch das Einzige, was ich hörte, war die Tür, die sich mit einem Seufzen hinter mir schloss.
Obwohl ich nicht ganz sicher war, wie ich mich weiter verhalten sollte, ging ich langsam den Gang entlang und betrachtete dabei die Antiquitäten, darunter eine Sammlung langer, vertikaler Banner mit Abbildungen von Pferden, Türmen und Frauen, wobei Letztere durchweg große Ähnlichkeit mit der Jungfrau Maria aufwiesen. Ein paar der Fahnen wirkten sehr alt und ausgebleicht, andere modern und ziemlich farbenfroh. Erst, als ich das Ende der Reihe erreichte, dämmerte mir, dass ich mich hier nicht in einem Privathaus befand, sondern in einer Art Museum.
Nun war auch endlich etwas zu hören: unregelmäßige Schritte und eine tiefe Stimme, die ungeduldig rief: »Salvatore?«
Rasch wirbelte ich herum, um meinem ahnungslosen Gastgeber entgegenzublicken, der soeben auf eine Krücke gelehnt aus einem Nachbarraum trat. Es handelte sich um einen älteren Mann, der die siebzig definitiv schon überschritten hatte. Seine gerunzelte Stirn ließ ihn noch älter aussehen. »Salva-?« Bei meinem Anblick blieb er wie angewurzelt stehen und gab etwas von sich, das nicht besonders gastfreundlich klang.
»Ciao!«, sagte ich so selbstbewusst wie möglich und reckte ihm dabei den Brief auf eine Weise entgegen, wie man es - nur für den Fall der Fälle - eigentlich mit einem Kruzifix machen sollte, wenn man mal einem Grafen aus Transsylvanien über den Weg lief, »ich bin auf der Suche nach Pia Tolomei. Sie kannte meine Eltern.« Ich deutete auf mich selbst. »Giulietta Tolomei. To-lo-mei.«
Schwer auf seine Krücke gestützt, trat der Mann auf mich zu und riss mir den Brief einfach aus der Hand. Misstrauisch beäugte er den Umschlag und drehte ihn immer wieder von einer Seite auf die andere, um sowohl die Adresse des Empfängers als auch die des Absenders mehrmals zu lesen. »Diesen Brief hat meine Frau geschrieben«, erklärte er schließlich in erstaunlich flüssigem Englisch, »vor vielen Jahren. An Diana Tolomei. Sie war meine ... hmm ... Tante. Wo haben Sie ihn her?«
»Diane war meine Mutter.« In dem großen Raum klang meine Stimme seltsam schüchtern. »Ich bin Giulietta, die ältere ihrer Zwillingstöchter. Ich wollte Siena sehen - sehen, wo sie gelebt hat. Können Sie sich ... an sie erinnern?«
Der alte Mann antwortete nicht gleich, sondern starrte mir eine Weile voller Verwunderung ins Gesicht. Dann berührte er mit einer Hand meine Wange, als müsste er sich erst davon überzeugen, dass es mich wirklich gab. »Die kleine Giulietta?«, fragte er schließlich. »Komm her!« Mit diesen Worten packte er mich an den Schultern und zog mich in seine Arme. »Ich bin Peppo Tolomei, dein Taufpate.«
Ich war ziemlich ratlos. Normalerweise gehörte ich nicht zu den Leuten, die herumliefen und ständig andere Leute umarmten - das überließ ich lieber Janice -, aber bei diesem lieben alten Mann machte es nicht einmal mir etwas aus.
»Es tut mir leid, dass ich einfach so hereinplatze ...«, begann ich und schwieg gleich wieder, weil ich keine Ahnung hatte, was ich als Nächstes sagen sollte.
»Nein-nein-nein-nein-nein!«, fegte Peppo alle Einwände beiseite, »ich freue mich so, dass du da bist! Komm, lass mich dir das Museum zeigen! Es ist das Museum der Contrade der Eule ...« Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte, und hüpfte auf der Suche nach etwas besonders Beeindruckendem, das er mir zeigen konnte, auf seinem Stock durch den Raum. Als er jedoch meinen Gesichtsausdruck bemerkte, blieb er stehen. »Nein! Du möchtest jetzt nicht das Museum sehen! Du möchtest reden! Ja, wir müssen reden!« Er warf
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