Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
Vom Netzwerk:
trocken hinzufügte: »Verdammt, das tun sie immer noch.«
    Als Teenager stellte ich mir immer vor, dass ich eines Tages nach Siena zurückkehren und mich plötzlich an meine ganze Kindheit erinnern würde. Nun, da ich endlich hier war und eine schmale Straße nach der anderen entlangbrauste, ohne irgendetwas wiederzuerkennen, fragte ich mich allmählich, ob wohl aufgrund der Tatsache, dass ich den Großteil meines Lebens weit von diesem Ort entfernt gelebt hatte, ein wichtiger Teil meiner Seele verdorrt war.
     
    Pia und Peppo Tolomei wohnten auf einem Bauernhof in einem kleinen Tal, umgeben von Weinbergen und Olivenhainen. Rund um ihr Anwesen stiegen sanft geschwungene Hügel an, und das wohltuende Gefühl friedlicher Abgeschiedenheit machte den fehlenden Fernblick mehr als wett. Das Haus selbst war alles andere als prächtig. In den Rissen seiner gelben Wände wuchs Unkraut, die grünen Fensterläden hätten weitaus mehr gebraucht als nur einen neuen Anstrich, und das rote Ziegeldach sah aus, als würde der nächste Sturm - oder vielleicht schon das Niesen eines Bewohners - sämtliche Dachpfannen herabsegeln lassen. Trotzdem war es dank der vielen Weinreben und der strategisch klug verteilten Blumentöpfe gelungen, den Verfall zu vertuschen und dem Ort etwas absolut Unwiderstehliches zu verleihen.
    Nachdem Peppo den Roller abgestellt und sich eine an der Wand lehnende Krücke geschnappt hatte, führte er mich direkt in den Garten. Dort hinten im Schatten des Hauses thronte seine Frau Pia auf einem Hocker inmitten ihrer Enkel und Urenkel wie eine alterslose, von Nymphen umringte Erntegöttin, und brachte ihnen bei, wie man aus frischem Knoblauch Zöpfe flocht. Es waren mehrere Anläufe nötig, bis Peppo ihr begreiflich machen konnte, wer ich war und warum er mich hergebracht hatte, doch nachdem Pia endlich ihren Ohren traute, schob sie die Füße in ihre Pantoffeln, erhob sich mit Hilfe ihrer Nachkommenschaft und schloss mich unter Tränen in die Arme. »Giulietta!«, rief sie, während sie mich an ihre Brust drückte und gleichzeitig auf die Stirn küsste. »Che meraviglia! Was für ein Wunder!«
    Sie freute sich so aufrichtig, mich zu sehen, dass ich mich fast schämte. Als ich an diesem Morgen das Eulen-Museum betreten hatte, war ich nicht auf der Suche nach meinen lange verschollenen Paten gewesen. Mir war bis dahin nicht mal in den Sinn gekommen, dass ich überhaupt Paten hatte, geschweige denn, dass sie sich derart freuen würden, mich wohlbehalten wiederzusehen. Trotzdem standen sie nun vor mir, und ihr liebevoller Empfang machte mir auf einmal bewusst, dass ich mich - bis jetzt - noch nie irgendwo wirklich willkommen gefühlt hatte, nicht einmal dort, wo ich eigentlich zu Hause war. Zumindest nicht, wenn sich Janice in der Nähe aufhielt.
    Innerhalb einer Stunde füllten sich Haus und Garten mit Menschen und Essen. Es war, als hätten sie alle gleich um die Ecke gewartet und - mit einer Delikatesse der Gegend in der Hand - auf eine Gelegenheit zum Feiern gehofft. Zum Teil waren es Verwandte, zum Teil Freunde und Nachbarn, die alle behaupteten, sie hätten meine Eltern gekannt und sich immer schon gefragt, was denn aus ihren Zwillingstöchtern geworden sei. Niemand äußerte sich genauer, aber ich begriff instinktiv, dass Tante Rose damals gegen den Willen der Tolomei-Familie angerauscht war und Anspruch auf Janice und mich erhoben hatte. Über Onkel Jim hatte sie noch Beziehungen ins Außenministerium gehabt, so dass wir von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden waren - zur großen Enttäuschung von Pia und Peppo, die schließlich unsere Paten waren.
    »Aber das gehört alles der Vergangenheit an!«, sagte Peppo immer wieder, während er mir den Rücken tätschelte, »denn nun bist du ja da, und wir können endlich reden.« Das Problem war nur, wo wir anfangen sollten. Es galt so viele Fragen zu beantworten, über so viele Jahre und Dinge Rechenschaft abzulegen - unter anderem die mysteriöse Abwesenheit meiner Schwester.
    »Sie war zu beschäftigt, um mitzukommen«, erklärte ich und senkte dabei verlegen den Blick, »aber ich bin sicher, sie wird euch bald besuchen.«
    Es war nicht sehr hilfreich, dass nur ein paar von den Gästen Englisch sprachen und jede Antwort auf jede Frage zuerst von einer dritten Person verstanden und übersetzt werden musste. Trotzdem verhielten sich alle so lieb und herzlich, dass selbst ich mich nach einer Weile entspannte und die Situation zu genießen begann. Unsere

Weitere Kostenlose Bücher