Julia
Verständigungsprobleme spielten im Grunde keine Rolle. Was zählte, war jedes noch so kleine Lächeln oder Nicken, denn diese Gesten sagten so viel mehr, als Worte es vermocht hätten.
Irgendwann kam Pia mit einem Fotoalbum auf die Terrasse und ließ sich neben mir nieder, um mir Bilder von der Hochzeit meiner Eltern zu zeigen. Sobald sie das Album aufschlug, scharten sich weitere Frauen um uns. Alle wollten mitschauen und beim Umblättern helfen.
»Sieh mal da«, sagte Pia und deutete auf ein großes Hochzeitsfoto, »deine Mutter trägt das Kleid, das ich bei meiner Hochzeit anhatte. Ach, sind sie nicht ein schönes Paar? ... Und das hier ist dein Cousin Francesco ...«
»Warte!« Vergeblich versuchte ich, sie vom Umblättern abzuhalten. Ihr war vermutlich nicht klar, dass ich vorher noch nie ein Foto von meinem Vater gesehen hatte und das einzige Erwachsenenfoto, das ich je von meiner Mutter zu Gesicht bekommen hatte, ihr Highschool-Abschlussfoto auf Tante Roses Piano war.
Pias Album traf mich völlig unvorbereitet - nicht so sehr, weil meine Mutter unter ihrem Hochzeitskleid deutlich sichtbar schwanger war, sondern weil mein Vater auf dem Bild wie hundert aussah. Was er natürlich nicht war, aber verglichen mit meiner Mutter - einer Göre frisch vom College, die Grübchen in den Wangen hatte, wenn sie lächelte - sah er aus wie der alte Abraham in meiner illustrierten Kinderbibel.
Trotzdem wirkten die beiden glücklich miteinander. Auch wenn es keine Fotos gab, auf denen man sie küssen sah, hing meine Mutter doch meist am Ellbogen ihres Ehemannes und himmelte ihn voller Bewunderung an. Deswegen schüttelte ich mein anfängliches Erstaunen nach einer Weile ab und beschloss, es zumindest für möglich zu halten, dass an diesem schönen und segensreichen Ort Vorstellungen wie Zeit und Alter nur wenig Einfluss auf das Leben der Menschen hatten.
Die Frauen um mich herum bestätigten meine Theorie, denn keine von ihnen schien an dem Paar irgendetwas außergewöhnlich zu finden. Soweit ich verstehen konnte, drehten sich ihre gezwitscherten Kommentare - die natürlich alle auf Italienisch abgegeben wurden - in erster Linie um das Kleid und den Schleier meiner Mutter und um die komplizierten verwandtschaftlichen Verhältnisse, die jeden einzelnen Hochzeitsgast mit meinem Vater und mit ihnen selbst verbanden.
Nach den Hochzeitsfotos folgten ein paar Seiten, die unserer Taufe gewidmet waren, doch meine Eltern tauchten dabei kaum auf. Die Bilder zeigten Pia mit einem Baby, bei dem es sich entweder um Janice oder um mich handelte - es war unmöglich, uns auf den Fotos zu unterscheiden, und Pia konnte sich nicht erinnern -, während Peppo stolz den zweiten Täufling hielt. Offenbar hatte es damals zwei getrennte Zeremonien gegeben, eine in einer Kirche und eine draußen in der Sonne, am Taufbrunnen der Contrade der Eule.
»Das war ein guter Tag«, meinte Pia mit einem wehmütigen Lächeln. »Ihr beide, du und deine Schwester, habt kleine civettini bekommen, kleine Eulen. Wie schrecklich, dass ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. »Das alles ist so lange her. Manchmal frage ich mich, ob die Zeit tatsächlich alle Wunden ...« Sie verstummte, weil im Haus schlagartig Hektik ausbrach und eine Stimme ungeduldig ihren Namen rief. »Komm«, wandte sich Pia, die plötzlich einen nervösen Eindruck machte, an mich, »das muss unsere Nonna sein!«
Die alte Großmutter Tolomei, die alle Nonna nannten, lebte bei einer ihrer Enkelinnen im Zentrum von Siena, war jedoch an diesem Nachmittag auf den Bauernhof gerufen worden, um mich kennenzulernen - ein Arrangement, dass offensichtlich nicht in ihren persönlichen Zeitplan passte. Sie stand in der Diele und zupfte mit einer Hand gereizt ihre schwarze Spitze zurecht, während sie sich mit der anderen schwer auf ihre Enkeltochter stützte. Wäre ich so scharfzüngig wie Janice, hätte ich sie sofort zur Bilderbuchhexe gekürt. Es fehlte nur die Krähe auf ihrer Schulter.
Pia stürzte vor, um die alte Dame zu begrüßen, die mürrisch zuließ, dass sie auf beide Wangen geküsst und dann zu ihrem Lieblingssessel im Wohnzimmer geleitet wurde. Es dauerte ein paar Minuten, bis alles so war, dass Nonna sich wohlfühlte. Kissen mussten herbeigeholt, platziert und dann noch einmal verschoben werden. Außerdem brachte man ihr aus der Küche eine besondere Limonade, die sofort zurückgeschickt und dann erneut hereingetragen wurde, diesmal mit einer Zitronenscheibe auf dem Rand.
»Nonna
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