Julia
ist unsere Tante«, flüsterte Peppo mir ins Ohr, »die jüngste Schwester deines Vaters. Komm, ich stelle dich ihr vor.« Er zerrte mich ins Wohnzimmer, wo ich vor der alten Dame stramm stand, während er ihr auf Italienisch die Zusammenhänge erklärte und dabei offensichtlich damit rechnete, ein Zeichen von Freude auf ihrem Gesicht zu sehen.
Doch Nonna ließ sich kein Lächeln entlocken. Wie sehr Peppo sie auch drängte - fast schon anflehte -, sich mit uns anderen zu freuen, sie konnte sich nicht dazu durchringen, meine Anwesenheit als etwas Positives zu empfinden. Peppo ließ mich sogar vortreten, damit sie mich besser sehen konnte, aber was sie sah, gab ihr nur noch mehr Anlass zum Stirnrunzeln. Bevor Peppo es schaffte, mich aus der Schusslinie zu schaffen, lehnte sie sich vor und fauchte etwas, das ich nicht verstand, alle anderen aber vor Verlegenheit nach Luft schnappen ließ.
Unter fortwährenden Entschuldigungen wurde ich von Pia und Peppo quasi aus dem Wohnzimmer geschleppt. »Es tut mir so leid!«, wiederholte Peppo immer wieder. Vor lauter Beschämung schaffte er es nicht, mir in die Augen zu sehen. »Ich weiß wirklich nicht, was mit ihr los ist. Ich glaube, sie wird langsam verrückt!«
»Keine Sorge«, antwortete ich wie betäubt, »ich kann es ihr nicht verdenken, wenn sie das alles nicht glaubt. Es ist noch so neu, sogar für mich selbst.«
»Lass uns einen kleinen Spaziergang machen«, meinte Peppo, der immer noch ganz durcheinander wirkte, »und später wieder herkommen. Es ist an der Zeit, dass ich dir ihre Gräber zeige.«
Der Dorffriedhof hieß uns wie eine schläfrige Oase willkommen und unterschied sich grundlegend von allen Friedhöfen, die ich bisher gesehen hatte. Er bestand ganz aus einem Labyrinth weißer, freistehender Wände ohne Dach, und in diese Wände war von oben bis unten ein Mosaik aus Gräbern eingelassen. Namen, Daten und Fotos identifizierten die Individuen hinter den Marmorplatten, und in dafür vorgesehenen Messinggefäßen steckten - im Auftrag des vorübergehend außer Gefecht gesetzten Gastgebers - von Besuchern mitgebrachte Blumen.
»Hier ...« Peppo stützte sich mit einer Hand auf meine Schulter, was ihn jedoch nicht davon abhielt, mit galantem Schwung ein ächzendes Eisentor für uns zu öffnen und mich zu einem kleinen Schrein abseits des Hauptweges zu geleiten. »Das hier ist Teil des alten ... hmmm ... Grabmals der Tolomeis. Das meiste davon befindet sich unter der Erde, aber wir steigen heutzutage nicht mehr dort hinunter. Hier oben ist es besser.«
»Sehr schön ist es hier.« Ich trat in den kleinen Raum und ließ den Blick über die vielen Marmorplatten schweifen. Auf dem Altar stand ein frischer Blumenstrauß, und in einer roten Glasschale, die mir irgendwie bekannt vorkam, brannte eine kleine Kerze, was erkennen ließ, dass die Tolomei-Grabstätte von der Familie sorgsam gepflegt wurde. Ich verspürte plötzlich einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil ich hier allein stand, ohne Janice, schüttelte dieses Gefühl aber gleich wieder ab. Wäre sie an meiner Stelle gewesen, hätte sie den Moment höchstwahrscheinlich mit einer abfälligen Bemerkung ruiniert.
»Hier liegt dein Vater«, erklärte Peppo, der auf eine Marmorplatte zeigte, »und gleich daneben deine Mutter.« Er schwieg einen Moment, als hinge er einer fernen Erinnerung nach. »Sie war so jung. Ich dachte, sie würde mich um viele Jahre überleben.«
Ich starrte auf die beiden Marmorplatten, die das Einzige waren, was noch an Professor Patrizio Scipione Tolomei und seine Frau Diane Lloyd Tolomei erinnerte, und spürte, wie mein Herz zu flattern begann. So lange ich denken konnte, waren meine Eltern für mich kaum mehr als ferne Schatten in einem Tagtraum gewesen. Ich hatte niemals damit gerechnet, dass ich ihnen eines Tages - zumindest körperlich - so nahe sein würde. Selbst wenn ich mir früher oft ausmalte, wie es wäre, nach Italien zu reisen, war mir aus irgendeinem Grund nie in den Sinn gekommen, dass meine erste Pflicht nach meiner Ankunft darin bestehen musste, ihre Gräber aufzuspüren. Nun empfand ich eine warme Welle der Dankbarkeit gegenüber Peppo, weil er mir half, das Richtige zu tun.
»Danke«, sagte ich leise und drückte dabei seine Hand, die immer noch auf meiner Schulter ruhte.
»Es war eine große Tragödie, dass sie auf diese Weise ums Leben kommen mussten«, antwortete er kopfschüttelnd, »und dass Patrizios ganze Arbeit ein Opfer der Flammen wurde. Er
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