Julia
Bewohner bestand.
»Was hältst du von folgendem Vorschlag, Bruder?«, begann der Schurke in beunruhigend höflichem Ton. »Ich verspreche dir, dich am Leben zu lassen. Du kannst sogar den schönen Wagen und die edlen Pferde behalten. Und du brauchst nicht einmal Zoll zu bezahlen, wenn ich dafür dieses Mädchen bekomme.«
»Ich danke für das großzügige Angebot«, antwortete Bruder Lorenzo, der die Augen zusammenkneifen musste, weil ihn die untergehende Sonne blendete, »aber ich habe geschworen, diese edle junge Dame zu beschützen, und kann sie Euch daher nicht überlassen. Wenn ich es täte, würden wir beide in der Hölle landen.«
»Bah ! « Das hatte der Bandit alles schon einmal gehört. »Dieses Mädchen ist ebenso wenig eine Dame wie du und ich. Ehrlich gesagt habe ich den starken Verdacht, dass es sich um eine Tolomei-Hure handelt!«
Aus dem Inneren des Sarges drang ein entrüsteter Schrei, und Bruder Lorenzo trat rasch mit einem Fuß auf den Deckel, um ihn geschlossen zu halten.
»Diese Dame liegt meinem Herren Tolomei in der Tat sehr am Herzen«, antwortete er, »und jeder Mann, der Hand an sie legt, wird seiner eigenen Sippe einen Krieg bescheren. Gewiss wünscht Euer Herr, Salimbeni, keine solche Fehde.«
»Ach, ihr Mönche mit eurem Gerede!« Der Bandit ritt neben den Karren. Erst jetzt verblasste seine Aura. »Hör lieber auf, mir mit Krieg zu drohen, du kleiner Prediger, denn darauf verstehe ich mich besser als du.«
»Ich bitte Euch, uns gehen zu lassen!«, flehte Bruder Lorenzo und hielt mit zitternden Händen seinen Rosenkranz hoch, in der Hoffnung, er möge die letzten Sonnenstrahlen auffangen, »oder ich schwöre bei diesen heiligen Perlen und den Wunden Jesu, dass Cherubim vom Himmel herabkommen und Eure Kinder in ihren Betten erschlagen werden!«
»Sie dürfen gerne kommen!« Der Schurke zog erneut das Schwert. »Ich habe ohnehin zu viele Mäuler zu stopfen!« Er schwang ein Bein über den Kopf seines Pferdes und sprang mit der Leichtigkeit eines Tänzers auf den Wagen, wo er rasch sein Gleichgewicht wiedererlangte. Als er sah, dass der andere entsetzt zurückwich, musste er lachen. »Weshalb so überrascht? Dachtet Ihr wirklich, ich würde Euch am Leben lassen?«
Der Bandit holte aus, und Bruder Lorenzo sank ergeben auf die Knie. Mit dem Rosenkranz zwischen den Händen wartete er auf den Schwertstoß, der seinem Gebet ein Ende setzen würde. Mit neunzehn zu sterben war grausam, vor allem, da niemand sein Märtyrertum bezeugen konnte, außer natürlich sein göttlicher Vater im Himmel, der nicht gerade bekannt dafür war, sterbenden Söhnen zu Hilfe zu eilen.
II.II
Na, setzt Euch, setzt Euch, Vetter Capulet!
Wir beide sind ja übers Tanzen hin
Ich weiß nicht mehr, wie weit ich an dem Abend mit der Geschichte kam, doch draußen zwitscherten schon die ersten Vögel, als ich schließlich auf einem Meer aus Papier in den Schlaf sank. Mittlerweile war mir klar, worin der Zusammenhang zwischen den vielen verschiedenen Texten in der Truhe meiner Mutter bestand: Sie waren alle, jeder auf seine Weise, Vor-Shakespeare'sche Versionen von Romeo und Julia. Noch dazu handelte es sich bei den Texten von 1340 nicht einfach nur um Fiktion, sondern um echte Augenzeugenberichte über Ereignisse, welche zur Entstehung der berühmten Geschichte geführt hatten.
Obwohl der geheimnisvolle Maestro Ambrogio in seinem eigenen Tagebuch vorerst nicht auftauchte, war er allem Anschein nach persönlich mit den Menschen bekannt gewesen, die offenbar das Vorbild zweier so »unsternbedrohter« Gestalten der Literatur waren. Wobei ich allerdings feststellen musste, dass es zwischen seinen Aufzeichnungen und Shakespeares Tragödie bisher kaum Überlappungen gab. Natürlich lagen zwischen den tatsächlichen Ereignissen und dem Stück des Barden mehr als zweieinhalb Jahrhunderte, so dass die Geschichte im Lauf der Zeit bestimmt durch viele verschiedene Hände gegangen war.
Da ich darauf brannte, meine neuen Erkenntnisse mit jemandem zu teilen, der sie zu schätzen wusste - nicht jeder fände es lustig, dass jahrhundertelang Millionen von Touristen in die falsche Stadt gepilgert waren, um Julias Balkon und Grab zu sehen -, rief ich nach meiner morgendlichen Dusche sofort Umberto auf dem Handy an.
»Glückwunsch!«, meinte er, als ich ihm berichtete, dass ich Presidente Maconi erfolgreich bezirzt hatte, mir die Truhe meiner Mutter auszuhändigen. »Also, wie reich bist du jetzt?«
»Ähm.« Ich blickte
Weitere Kostenlose Bücher