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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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eindringlich ausgesprochen in den Worten der Schrift, ihre keuschen, hohen Pflichten, so wichtig zum Glücke, zur Ordnung, zum Frieden, zur Fortdauer des menschlichen Geschlechtes, so süß zu erfüllen an sich selbst — dies Alles machte mir einen solchen Eindruck, daß ich inwendig eine jähe Revolution zu fühlen glaubte. Eine unbekannte Macht schien plötzlich die Unordnung der inneren Regungen zu schlichten, und sie nach dem Gesetze der Pflicht und der Natur wiederherzustellen. Das ewige Auge, welches Alles sieht, sagte ich bei mir selbst, liest jetzt im Grunde meines Herzens, vergleicht meinen geheimen Willen mit der Antwort meines Mundes; Himmel und Erde sind Zeugen der heiligen Verpflichtung, die ich übernehme, und sie werden auch Zeugen sein der Treue, mit welcher ich sie erfülle. Welches Recht kann unter den Menschen Der achten, der das erste von allen zu verletzen wagt?
    Ein zufälliger Blick auf Herrn und Frau v. Orbe, die ich neben einander stehen und mich mit Augen der Rührung betrachten sah, bewegte mich noch gewaltiger als alles Uebrige. Liebenswürdiges, tugendhaftes Paar, seid ihr, weil ihr die Liebe weniger kanntet, weniger vereint? Pflicht und Sittlichkeit binden euch; zärtliche Freunde, treue Gatten, nicht entflammt von einer rasenden Glut, welche die Seele verzehrt, liebet ihr euch mit reinen sanften Gefühlen, welche sie nähren, Gefühlen, welche die Sitte heiligt und die Vernunft leitet; euer Glück ist nur um desto wahrer und dauerhafter. Ach, könnte ich in einem ähnlichen Bande dieselbe Unschuld wiedererwerben und dasselbe Glück genießen! Wenn ich es nicht verdient habe, wie ihr, werde ich mich seiner nach eurem Beispiel würdig machen. Diese Stimmung weckte in mir Hoffnung und Muth. Ich sah das heilige Bündniß, welches ich eingehen sollte, als einen neuen Stand an, der meine Seele reinigen und sie allen ihren Pflichten zurückgeben sollte. Als der Geistliche mich fragte, ob ich Dem, den ich zum Gatten annähme, vollkommene Treue und Gehorsam verspräche, sagte ich mit Mund und Herzen Ja. Ich werde das Versprechen halten bis an meinen Tod.
    Als ich zu Hause wieder ankam, sehnte ich mich nach einer Stunde Einsamkeit und Sammlung. Ich erlangte sie, nicht ohne Mühe; und wie sehr es mich drängte, sie mir zu Nutze zu machen, ging ich doch an meine Selbstprüfung nur mit Widerstreben, denn ich fürchtete, nur eine vorübergehende Aufregung unter den veränderten Umständen erfahren zu haben und eben so wenig eine würdige Gattin an mir zu finden, als ich ein sittsames Mädchen gewesen war. Mein Prüfungsmittel war sicher, aber gefährlich: ich fing damit an, daß ich an Sie dachte. Ich gab mir das Zeugniß, daß kein Liebesgedanke mein feierliches Gelöbniß gestört hatte. Ich konnte nicht begreifen, durch welches Wunder Ihr hartnäckiges Bild, bei so großem Anlaß, es mir zurückzurufen, mich so lange hatte in Frieden lassen können; ich hätte dieser Gleichgültigkeit, dieser Vergessenheit mißtrauen mögen, als einem trügerischen Zustand, der mir zu wenig natürlich war, um von Dauer zu sein. Jedoch war keine solche Täuschung zu befürchten: ich fühlte, daß ich Sie ebenso sehr liebte und vielleicht noch mehr als sonst; aber ich fühlte es, ohne zu erröthen. Ich sah, daß ich, um an Sie zu denken, nicht nöthig hatte, zu vergessen, daß ich eines Andern Weib sei. Indem ich mir sagte, wie theuer Sie mir wären, war mein Herz bewegt, aber mein Gewissen und meine Sinne waren ruhig, und ich erkannte von Augenblick an, daß ich wirklich verwandelt war. Welcher Strom reiner Freude ergoß sich da in meine Seele! welches Gefühl von Frieden, das so lange in mir erloschen gewesen, erfrischte diese von Schmach welke Seele und verbreitete durch mein ganzes Wesen eine neue Klarheit! Ich glaubte mich neu geboren, ich glaubte ein neues Leben zu beginnen. Süße Trösterin, Tugend, dir beginne ich es; du wirst mir es lieb machen, dir will ich es weihen. Ach, ich habe zu sehr erfahren, was es heißt, dich verlieren, um zum zweiten Male von dir zu weichen!
    In der Freude über eine so große, schnelle, unerwartete Veränderung wagte ich meinen Zustand vom vorigen Tage zu betrachten; ich schauderte vor der unwürdigen Versunkenheit, in welche ich durch mein Selbstvergessen gerathen war, vor den Gefahren, denen ich seit meiner ersten Verirrung ausgesetzt gewesen. Was für eine glückliche Umwälzung, die mich den Graus des Verbrechens erkennen ließ, das mich versucht hatte, und wieder

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