Julie oder Die neue Heloise
Gefallen an der Sittlichkeit in mir erweckte! Was für ein seltenes Glück, daß ich meiner Liebe treuer geblieben, als der Ehre, die mir einst so theuer war! Was für eine Gunst des Schicksals, daß nicht Unbeständigkeit von Ihrer Seite oder eigene mich andern Neigungen in die Hände lieferte? Wie hätte ich einem andern Liebhaber einen Widerstand entgegensetzen können, den der erste bereits überwunden hatte, und eine Scham, die schon gewohnt war, der Begierden zu weichen? Würde ich die Rechte einer erloschenen Liebe mehr geachtet haben, als die der Tugend, als diese noch in der Blüthe ihrer Herrschaft war? Welche Sicherheit konnte ich haben, immer nur Sie allein zu lieben, außer dem innern Gefühl, das alle Liebenden zu haben meinen, wenn sie sich ewige Treue schwören, und sich unschuldigerweise meineidig machen, sobald es dem Himmel gefällt, ihr Herz umzuwandeln? Jede Niederlage würde so die nächste vorbereitet haben; durch die Gewohnheit würde das Laster in meinen Augen seine Scheußlichkeit verloren haben. Aus Entehrung zu Schändlichkeit hinabgerissen, ohne Anhalt, um mich zu retten, würde ich aus einer gemißbrauchten Geliebten eine verlorene Dirne geworden sein, die Schmach meines Geschlechtes und die Verzweiflung meiner Familie. Wer hat mich behütet vor so natürlichen Folgen meines ersten Fehltrittes? wer hat mich zurückgehalten nach dem ersten Schritte? wer hat mir meinen Ruf und die Achtung Derer, die mir theuer sind, bewahrt? wer hat mich unter die Hut eines tugendhaften, verständigen, wegen seines Charakters und selbst seiner Person liebenswerthen Gatten gestellt, eines Mannes, der mir eine Achtung, eine Zuneigung entgegenbringt, die ich sowenig verdient habe? wer endlich verstattet mir noch, Anspruch zu machen auf den Namen einer rechtschaffenen Frau, und verleiht mir den Muth mich seiner würdig zu machen? Ich sehe es, ich fühle es; die hülfreiche Hand, welche mich durch das Dunkel geführt hat, ist dieselbe, welche von meinen Augen jetzt die Decke des Irrthums reißt und mich wider meinen Willen mir selbst zurückgiebt. Die verborgene Stimme, die nicht aufhörte in der Tiefe meiner Seele leise zu mahnen, erhebt sich, und donnert in dem Augenblicke, da ich schon daran war unterzugehen. Der Urquell aller Wahrheit wollte nicht, daß ich aus seiner Gegenwart scheide, beladen mit einem schnöden Meineid, und meinem Verbrechen durch die Mahnungen meines Gewissens zuvorkommend, zeigte er mir den Abgrund, in den ich zu stürzen im Begriffe war. Ewige Vorsehung, die du das Würmchen leitest und den Gang des Firmamentes, du wachest über das kleinste deiner Werke! du erinnerst mich an das Gute, zu dem du mirLiebe eingeflößt hast
[Rousseau ist selbst ein großer Verehrer der Vorsehung, und die Worte, die er hier Julien in die Feder giebt, sind ihm aus dem Herzen. Seine Wendungen, so oft er die Vorsehung gegen die Angriffe der Atheisten zu retten sucht, sind durchaus denjenigen verwandt, welche er Julie gebrauchen läßt; sie leiden immer an demselben Gebrechen, und Rousseau ist in dieser Hinsicht stets ganz so kurzsichtig, als er Julie macht, wenn sie z. B. sagt, sie sei durch eine fremde Macht wider ihren Willen zu sich selbst zurückgekommen: während es nichts weiter als ihr Wille ist und sein kann, der endlich, bei ihrem Eintritt in ein festes Verhältniß sich selbst zusammenfaßt. Man vergleiche übrigens ,,Bekenntnisse" Anh, zum 6. Theil, S. 132. D. Ueb.]
. Nimm nun das Opfer eines durch deine Huld gereinigten Herzens an, eines Herzens, das du allein würdig machst, dir dargebracht zu werden.
Im Augenblicke, durchdrungen von einem lebhaften Gefühle der Gefahr, der ich entronnen war, und der ehrenvollen und sichern Lage, in die ich mich versetzt fand, warf ich mich zur Erde, hob meine Hände flehend zum Himmel empor, rief das Wesen an, dessen Thron er ist, und das, wann es ihm gefällt, die Freiheit, welche es uns gegeben hat, durch unsere eigenen Kräfte erhält oder zerstört. Ich will, sprach ich zu ihm, das Gute, welches du willst, und dessen Quelle du allein bist. Ich will den Gatten lieben, den du mir gegeben hast; ich will treu sein, weil es die erste Pflicht ist, aus der alle anderen Nahrung ziehen. Ich will Alles, was der Ordnung der Natur gemäß ist, die du eingesetzt hast, und den Regeln der Vernunft gemäß, die ich von dir habe. Ich stelle mein Herz in deine Hut und mein Verlangen in deine Hand. Mache alle meine Handlungen übereinstimmend mit meinem beständigen Willen,
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