Julie oder Die neue Heloise
hatte keine Entschuldigung mehr. Wenigstens erklärte mir mein Vater, daß er keine weiter annehmen würde, und mit der Macht über meinen Willen, welche ihm jenes schreckliche Wort, das er ausgesprochen hatte, gab, ließ er mich schwören, Herrn von Wolmar nichts zu sagen, was ihn abhalten könnte, mich zu heiraten; denn, setzte er hinzu, es würde ihm ein zwischen uns abgekartetes Spiel scheinen, und um jeden und jeden Preis muß diese Heirat zu Stande kommen, oder ich sterbe vor Gram.
Sie wissen, Freund, meine Gesundheit, die allen körperlichen Anstrengungen und allen Beschwerden von Wind und Wetter trotzt, ist den Stürmen der Leidenschaften nicht gewachsen, und in meinem zu empfindlichen Herzen liegt die Quelle aller meiner Leiden, der leiblichen und der geistigen. Sei es nun, daß langer Kummer meine Säfte verdorben hatte, sei es, daß die Natur diese Gelegenheit ergriff, um sie von einer schädlichen Schärfe zu reinigen, ich fühlte mich am Ende dieser Unterredung sehr unbehaglich. Als ich das Zimmer meines Vaters verlassen hatte, strengte ich mich noch an, Ihnen ein Paar Worte zu schreiben, und befand mich so übel, daß ich hoffte, als ich mich zu Bette legte, nicht wieder aufzustehen. Alles Uebrige ist Ihnen nur zu gut bekannt; meine Unvorsichtigkeit zog die Ihrige nach sich. Sie kamen; ich sah Sie, und glaubte, daß es nur einer von jenen Träumen war, welche sich mir so oft während meiner Fieberphantasien vorstellten, Aber als ich erfuhr, daß Sie da gewesen, daß ich Sie wirklich gesehen hatte, und daß Sie sich mit der Krankheit, von der Sie mich nicht heilen konnten, um sie zu theilen, geflissentlich angesteckt hatten, konnte ich diese letzte Prüfung nicht bestehen, und indem ich eine so zärtliche Liebe die Hoffnung überdauern sah, kannte meine eigene Hoffnung, die ich zu unterdrücken so viele Mühe angewendet, keinen Zügel mehr, und entbrannte bald lebhafter denn je zuvor. Ich sah, daß ich wider Willen lieben mußte; ich fühlte, daß es nicht anders ging, ich mußte strafbar sein; ich fühlte, daß ich weder meinem Vater noch meinem Geliebten widerstehen konnte, und daß es nicht möglich war, die Rechte der Liebe und die des Blutes anders in Einklang zu bringen, als auf Kosten der Ehrbarkeit. So erlosch jede gute Regung vollends in mir, alle meine Kräfte waren gebrochen; das Verbrechen erschien mir nicht mehr als Verirrung; ich fühlte mich in meinem Innern völlig umgewandelt; endlich stürzte mich die entfesselte Heftigkeit einer durch die Hindernisse zur Wuth gewordenen Leidenschaft in die furchtbarste Verzweiflung, welche eine Seele niederbeugen kann; ich wagte an der Tugend zu zweifeln, Ihr Brief, der wahrlich mehr geeignet war, die Reue zu erwecken, als ihr vorzubeugen, vollendete meinen Irrwahn. Mein Herz war so bestochen, daß meine Vernunft den Sophismen Ihrer Philosophie nicht widerstehen konnte; Gräuel, deren Vorstellung nie meine Seele besudelt hatte, boten sich ungestraft ihr dar. Noch kämpfte der Wille dawider, aber die Phantasie gewöhnte sich an sie, und wenn ich nicht im Voraus das Verbrechen im Grunde meiner Seele hegte, so fehlten ihr doch auch jene edlen Vorsätze, die ihm allein Widerstand leisten können.
Es wird mir schwer, fortzufahren: halten wir einen Augenblick inne! Erinnern Sie sich jener Zeiten des Glückes und der Unschuld, da jenes lebhafte und doch so milde Feuer, das uns beseelte, alle unsere Empfindungen läuterte, da seine heilige Glut
[Heilige Glut! Julie, Julie, ach, was für ein Wort für eine Frau, die sich so vollständig geheilt dünkt!]
uns die Schamhaftigkeit theurer und die Sittsamleit liebenswerther machte, da sich die Begierden selbst nur zu regen schienen, damit wir die Ehre erwürben, sie zu besiegen, und uns einer des andern noch mehr werth zu machen. Lesen Sie unsere ersten Briefe wieder, denken Sie an jene kurzen und zu wenig genossenen Augenblicke, da sich die Liebe in unseren Augen mit allen Reizen der Tugend schmückte, und wir uns zu sehr liebten, um Bande, welche diese nicht anerkennt, zwischen uns zu schlingen.
Was waren wir, und was sind wir geworden? Zwei zärtlich Liebende brachten ein ganzes Jahr mit einander im strengsten Schweigen hin, ihre Seufzer wagten sich nicht hervor, aber ihre Herzen verstanden einander; sie glaubten zu leiden und sie waren glücklich. Ihr Verstehen führte zum Aussprechen; zufrieden aber, sich selbst besiegen und sich gegenseitig dies ehrenvolle Zeugniß geben zu können, brachten sie abermals
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