Julie oder Die neue Heloise
soll man von Denen denken, die diese göttliche Leuchte, die Er ihnen gab, um den Weg zu zeigen, dazu gebrauchen, daß sie die Menschen in's Verderben führen? Trauen wir einer solchen Philosophie nicht, die in Worten kramt; trauen wir einer Tugend nicht, die alle Tugenden untergräbt, und sich dazu hergiebt, alle Laster zu rechtfertigen. um ihnen allen ungestraftfröhnen zu können. Das Mittel, um das, was gut ist, zu finden, ist, daß man es aufrichtig suche, und man kann nicht lange so danach suchen, ohne zu dem Urquell alles Guten hinaufzusteigen. Das habe ich, wie mich dünkt, gethan, seitdem ich mich damit beschäftige, meine Gefühle und meine Vernunft zu berichtigen; das werden Sie besser thun als ich, wenn Sie denselben Weg betreten wollen. Es ist mir tröstlich, zu denken, daß Sie meinen Geist oft mit den erhabenen Gedanken der Religion genährt haben, und Sie, dessen Herz nichts vor mir geheim hielt, würden sich nicht so gegen mich ausgesprochen haben, wenn Sie anders gedacht hätten. Es dünkt mich sogar, als hätten dergleichen Gespräche einen besonderen Reiz für uns gehabt. Die Gegenwart des höchsten Wesens war uns niemals lästig; sie flößte uns mehr Hoffnung als Furcht ein: sie ist immer nur der Seele des Bösen schreckhaft gewesen; wir hatten sie gern zum Zeugen unserer Gespräche, um uns vereinigt zu Ihm zu erheben. Wenn wir uns manchmal in Scham gedemüthigt fühlten, sagten wir, unsere Schwachheit beseufzend: Er liest wenigstens im Grunde unserer Herzen! und waren ruhiger.
Wenn uns diese Sicherheit irreführte, so ist es nun der Grund, auf dem sie ruhte, der uns zur Umkehr bringt, Ist es nicht eines Menschen recht unwürdig, nie zum Einklange mit sich selbst gelangen zu können, eine Regel für sein Denken, eine andere für sein Handeln zu haben, zu denken, als wäre er ohne Leib, zu handeln, als hätte er keine Seele, und nichts von Allem, was er in seinem Leben thut, auf sein ganzes ungetheiltes Ich zu beziehen? Was mich betrifft, so finde ich, daß man mit unseren alten Grundsätzen sehr stark ist, wofern man es nur nicht beim eitlen Speculiren bewenden läßt. Schwach ist der Mensch, und der barmherzige Gott, der ihn schuf, wird ihm die Schwachheit ohne Zweifel verzeihen; aber verbrecherisch ist der Böse, und wird nicht ungestraft bleiben vor dem Urquell aller Gerechtigkeit. Ein Glaubenloser, der übrigens glücklich begabt ist, übt Tugenden, weil er sie liebt, thut das Gute aus Neigung, nicht aus Wahl. Wenn all sein Trachten auf das Rechte geht, so folgt er ihm ungezwungen; er würde ihm aber ebenso folgen, wenn es umgekehrt wäre, denn weswegen sollte er sich Zwang anthun? Der aber, welcher den Vater aller Menschen erkennt und ihm dient, weiß, daß er eine höhere Bestimmung hat; die Lust, sie zu erfüllen, beseelt seinen Eifer, und einer zuverlässigeren Regel folgend als seinen Neigungen, weiß er das Gute zu thun, das ihm schwerfällt, und die Neigungen seines Herzens dem Gebote der Pflicht zu opfern. Zu solchem heldenmüthigen Opfer, o mein Freund, sind wir berufen. Die Liebe, welche uns vereinigte, würde unserem Leben seinen Reiz verliehen haben, Sie überlebte die Hoffnung, sie hat der Zeit und der Trennung getrotzt, hat alle Prüfungen bestanden. Ein so vollkommenes Gefühl durfte nicht an sich selber sterben; es war werth, der Tugend allein zum Opfer dargebracht zu werden.
Ich muß noch weiter gehen: Alles ist zwischen uns verändert, auch Ihr Herz müssen Sie nothwendig ändern. Julie von Wolmar ist nicht mehr Ihre alte Julie; eine gänzliche Umgestaltung Ihrer Gefühle für sie ist unvermeidlich, und es bleibt Ihnen keine andere Wahl, Sie müssen mit diesem Wechsel entweder dem Laster oder der Tugend die Ehre geben. Ich habe eine Stelle im Gedächtniß von einem Autor, den Sie nicht verwerfen werden: „Die Liebe," sagt er, „ist ihres größten Reizes beraubt, wenn sie aufhört ehrenwerth zu sein: um ihren ganzen Werth zu fühlen, muß sich das Herz in ihr gefallen, und muß uns erheben, indem es den geliebten Gegenstand erbebt. Nehmen Sie das Ideal der Vollkommenheit hinweg, und Sie nehmen alle Begeisterung hinweg; nehmen Sie die Achtung hinweg, und die Liebe ist nichts mehr. Wie könnte eine Frau einen Mann ehren, der sich selbst entehrt? Wie wird er selber Die anbeten können, die keine Scheu getragen hat, sich einem gemeinen Verführer hinzugeben? Sie werden sich also bald gegenseitig verachten; die Liebe wird für sie nichts mehr als ein schändlicher Umgang
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