Julie oder Die neue Heloise
„wagte ich an der Tugend selbst zu zweifeln.“
Aber auch ohne diesen Zweifel ist dem tugendhaften Herzen durch seine tugendbafte Schwäche die Niederlage gewiß. Die Liebe, die Treue, die Ehre, die Tugend selbst, Alles verräth Julie, macht sie schwach, stürzt sie in's Verderben. Sie erliegt aus heiligem Mitgefühl, sie wird untreu aus Treue, sie handelt ehrlos aus Ehrliebe; es bleibt ihr nichts übrig, als entweder ihren Geliebten, oder ihre Eltern, oder sich unglücklich zu machen; sie will sich opfern, und das Ende ist, daß sie Alle unglücklich gemacht hat.
Die Folge der Niederlage ist die Schande, der Fall ist ein ewiger innerer Schandfleck. In den Augen der Ehre löscht Böses das Gute aus, aber kein Gutes kann je das Böse wieder auslöschen. Zwar versichert das Herz, man brauche sich des Kampfes, der Leidenschaften, der Begierden, als natürlicher, an sich nicht böser Regungen, der Schwäche und selbst der Niederlage nicht zu schämen. Wenn man nur wacker gekämpft hat, so bleibt man auch im Erliegen doch immer noch ein Streiter der Tugend. „Fühlt man sich von Natur gut, so ist das genug, daß man sich nicht zu scheuen braucht, sich so zu zeigen, wie man ist." Aber vergeblich sucht sich das Herz so zu beschwichtigen. Der Schandfleck ist unvertilgbar. Sage sich das Herz immerhin: „ich habe in mir die Macht, die Schande auszulöschen; es giebt keinen ewigen Schandfleck als ein verderbtes Herz" — vergeblich! Julie wird die Gewissensbisse niemals los. Lauretta darf es nicht wagen, „in der Luft zu athmen, in welcher respectable Personen athmen"; „der Schimpf, der dem Laster anhaftet, ist unvertilgbar, beruht nicht blos auf der falschen Meinung der Welt." Gegen die Magie der Wirklichkeit ist das allgewaltige Herz ohnmächtig. Der Ausgang des Kampfes ist in jedem Falle die Ohnmacht.
Das Herz fühlt seine Ohnmacht. Es bleibt ihm nichts übrig, als Reue und Leid, nichts als Demuth und Zerknirschung. Es findet die menschlichen Kräfte unzureichend für die Aufgaben des Lebens. Aber auch seiner Demuth kann das arme Herz nicht trauen. Sie wird nur zu einem Deckmantel des Hochmuthes. Es gesteht sich dies, und fühlt seine Ohnmacht abermals. Es kann nichts, nicht einmal fühlen, ohne zu fühlen, daß sein Gefühl Lüge ist. Gänzliche Selbstvernichtung ist das Ende des Kampfes.
Nun schreit die Seele aus der Tiefe, sie schreit nach Hülfe und Rettung. Nicht mehr sie selbst, obgleich selbst übernatürlich, nur eine noch übernatürlichere, überseelische Kraft kann sie aus ihrer Ohnmacht erretten und ihr zum Siege verhelfen.
*
Die schöne Seele hat nicht blos Einen Sieg zu erringen, sondern viele Siege. Auf jeden Sieg folgt ein neuer Kampf, neue Schwäche, neues Gefühl der Ohnmacht, neue Sehnsucht nach höherer Hülfe. Nur das Erliegen tritt nicht immer wieder ein.
Daß sich der Kampf erneuert, das bewirkt schon die Sinnlichkeit. Saint-Preux kann sich eines traurigen Gefühles nicht erwehren, als er Wolmar und Julie in ihr Schlafcabinet gehen sieht. Julie hat vor der Sinnlichkeit seinetwegen große Furcht. Wie viele Mühe giebt sie sich nicht, ihn zur Heirat mit Clara zu überreden, damit er vor fleischlicher Sünde behütet sei, indem aus der verführerischen Macht eine gute, heilige Macht und seine Begierde der Tugend dienstbar gemacht wird.
Je kampfgeübter das Herz ist, desto weniger erliegt es, desto schneller erhebt es sich aus seiner Ohnmacht. Nichts ist erklärlicher. Die Begierde, der ihre sinnliche Befriedigung versagt wird, arbeitet sich in der Einbildung bis zur äußersten Mattigkeit ab; statt nach dem irdischen Gegenstande ihrer Befriedigung ächzt sie nach dem himmlischen Helfer und Tröster, der ihr dann auch nicht entgehen kann. Die Zustände der Empfindung wechseln natürlich in beständigen Contrasten: der Stärke folgt die Schwäche, der Ohnmacht die Erhebung. Das sich aus seiner Ohnmacht erhebende Herz glaubt von einer höheren Macht Stärkung empfangen, und durch übernatürliche Hülfe den Sieg über sich errungen zu haben.
Es ist schon erwähnt, daß die schöne Seele oft selbst erkennt und auch eingesteht, daß sie ein Spielzeug der Einbildungskraft ist. Sie läugnet nicht, daß die Gefühle unter der Herrschaft der Vorstellungen stehen. Sie ahnt und merkt bisweilen, wenigstens bei anderen Personen, daß die höheren Mächte, denen sich der Mensch unterworfen glaubt, bloße Vorstellungen oder Maximen sind, die er selbst sich macht, und denen er dann folgt, als könnte er
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