Julie oder Die neue Heloise
„geschaffen". Sie erleben ganz andere Dinge, machen ganz andere Erfahrungen als andere Leute. „Ihr seid besondere Menschen", sagt Clara zu Saint-Preux und Julie, „Alles, was ihr erleben werdet, wird vielleicht nicht seines Gleichen in der Welt haben". Und auch Juliens Mutter findet, daß die Liebe des jungen Paares „außer der Regel" sei.
Die schönen Seelen tragen das Urbild in sich, streben ihm nach, schleudern die Vorurtheile von sich, suchen sich und andere schöne Seelen zu vervollkommen im Dienste der Tugend, geben sich „dem himmlischen Zuge des Schönen, Rechten und Wahren hin", und erlangen so „ein richtiges Gefühl von jeder Sache". Daher sind sie ungemein; daher stehen sie einsam und allein in der Welt und können mit den Mitmenschen nicht leben. Von anderen, als schönen Seelen, werden sie ja nicht verstanden. Julie hatte sich ihren Eltern nicht entdecken wollen: diese „hätten ja nicht fassen können, was in ihrem Herzen vorging, und hätten sicherlich gemeine Heilmittel anwenden wollen". Die Gesellschaft der gewöhnlichen Menschen ist den schönen Seelen peinlich und verhaßt, denn sie reißt sie aus ihrem Himmel; sie stehen im Kreise der Welt „bestürzt, gedemüthigt, sich so tief herabgerissen zu sehen von jener inwendigen Größe, zu welcher sich ihre entstammten Herzen erhoben". Daher lieben sie wüste Inseln, Einsamkeit, schaurige Gegenden. Aber des Austausches kann die schöne Seele denn doch nicht entbehren. „Man will sagen, wie man liebt". Daher sucht die schöne Seele von Jugend auf die Gemeinschaft schöner Seelen: um einen Mann von schöner Seele hat Julie den Himmel angefleht. In ihrem Umgange mit anderen schönen Seelen hat die schöne Seele eine eigene Weise. Sie bleibt am liebsten stumm, träumt, fühlt, weint mit den Anderen, bis ein elektrisches Zucken eintritt, ein Ausbruch des Gefühls, gewöhnlich ein heftiger, folgt. Doch — die Neue Heloise liefert ja Beispiele genug von dieser Eigenthümlichkeit.
Die schöne Seele ist die gebundene von Hause aus, die ewig gebundene. Sie ist durch das Klima, durch die Witterung gebunden: davon hängen ihre Stimmungen, hängt die Färbung und Wirkung ihrer Leidenschaften ab. Von ihren Stimmungen ist sie gebunden, sie kann den Rührungen nie entgehen, die Gefühle nie bemeistern: die schöne Seele erblickt überall nur Gegenstände, von denen das Herz ergriffen, zum Entzücken, zum Mitleid, zur Trauer, zur Wehmuth, zur Wonne, zur Dankbarkeit, zur Hingebung gestimmt wird. Von allen diesen Gefühlen ist die schöne Seele gebunden, sie lebt in einem beständigen Fieberzustande: jeden Augenblick reißt ein anderes allmächtiges Gefühl sie an sich und schlägt sie in seine Bande. Jeden Augenblick versichert die schöne Seele, daß sie jetzt ganz anders für eine andere schöne Seele fühle als zuvor. Nach ihrer Verheiratung fühlt Julie, daß sie nun ganz anders für Saint-Preux fühle: das Gefühl sei lebhaft und zärtlich, wie einst, aber doch ein ganz anderes. Dem Saint-Preux kommt Wolmar in einem rührenden Moment, da er ihm die Hand drückt, plötzlich „als ein anderer Mann vor". Die beiden Umarmungen der Frau v. Wolmar in der nämlichen Stunde, gleich nach Saints-Preux's Ankunft in Clarens und etwas später, als die Kinder da sind, erzeugen in Saint-Preux durchaus verschiedene Gefühle. Ganze Stufenleitern von unsäglichen Gefühlen hat die schöne Seele durchzumachen. Man sehe nur die Schilderung der Gefühle, die Saint Preux auf der Reise nach Clarens, um seine alte Geliebte verheiratet wiederzusehen, abwechselnd bewegten
[Abth. IV. Br. 6.]
. Alle sind sie „nicht zu sagen, nicht zu fassen", ganz neue „nie gefühlte" Gefühle und zuletzt sind es „tausend streitende Gefühle zugleich, tausend schmerzliche und sehnliche Erinnerungen, die sich in sein Herz theilen." Die schöne Seele ist daher in einem ewigen Zustande von Schwäche und Bezauberung. Sie ist die unbedingt hingegebene, in keinem Augenblicke ihrerselbst mächtig. Sie ist gebunden von der Macht, die alle Wesen anziehend oder abstoßend auf sie üben, besonders aber von der Macht der anderen schönen Seele. Sie liegt immer offen da, Allem ergreifbar, von Allem erregbar, und ist so verliebt in diese Offenheit, daß durch Offenheit, wenn auch nur scheinbar, jeder Andere alles Gute, in Wahrheit aber Alles von ihr erlangen kann. Sie ist gebunden von der Offenheit. Sie ist schwach, sie kann nur fühlen, kann es nur zu Entschlüssen. nur zu guten Vorsätzen bringen,
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