Süden und der glückliche Winkel
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D iese Geschichte ist wirklich passiert, und ich habe sie bis heute niemandem erzählt, nicht einmal meinem besten Freund und Kollegen Martin Heuer, und auch nicht meiner Kollegin Sonja Feyerabend, mit der ich eine große Nähe teilte. Oft, wenn wir zu dritt zusammen waren – nach einem Kinobesuch, in einem Biergarten, an einem bestimmten Ort in der Stadt –, war ich kurz davor zu sprechen. Und ich erinnere mich, dass Sonja mich einmal in einem solchen Moment lange ansah und dann fragte, ob ich gerade eine Erscheinung gehabt hätte. Ich sagte nichts darauf, und später, nachts – es war Sommer und ihr Schlafzimmer, Gehege einer gierigen Mücke, erfüllt von schwerer Luft – beugte sie sich über mich und sah mich an wie nachmittags auf dem Viktualienmarkt, wo wir im Biergarten die kurz behoste, sockenlose Welt an uns vorüberziehen ließen. Und obwohl sie schwieg, wusste ich, was sie hören wollte. Doch auch ich schwieg und bedeutete ihr damit, dass es unmöglich sei, etwas zu erwidern, wenn sie sich nackt über mich beugte, und nach ungefähr einer Minute hatten meine Hände ihren Blick verändert, und wir begannen von vorn, uns zu lieben, nass von Schweiß und Speichel, kaum weniger ekstatisch als die vor Eifersucht und Ratlosigkeit tobende Mücke.
Am wenigsten bereit, davon zu erzählen, war ich, unmittelbar nachdem die Geschichte sich ereignet, nachdem ich den Vermisstenwiderruf ans Landeskriminalamt weitergeleitet und die Daten in unserem Computer gelöscht hatte und mein Vorgesetzter Volker Thon nicht aufhörte, mich zu fragen, wo ich in den vergangenen eineinhalb Tagen gesteckt und wieso ich mich nicht gemeldet und wo genau ich diesen seit fast vier Wochen verschwundenen Postbeamten plötzlich aufgespürt hätte.
Über die Umstände der Auffindung des Mannes, über die letzten Schritte meiner Ermittlungen, über manche Gespräche, die ich in einem früheren Stadium der Fahndung geführt hatte, enthielt mein Abschlussbericht eine Reihe von Ungenauigkeiten, die nichts anderes als gut kaschierte Lügen waren. Niemand hat sie bis heute als solche entlarvt. Für Volker Thon stellte die Vermissung des Cölestin Korbinian das übliche Ausbüxen eines gelangweilten Ehemanns dar, einen von rund eintausendfünfhundert Fällen, die wir auf der Vermisstenstelle im Dezernat 11 jedes Jahr zu bearbeiten hatten, eine Routinesache, bei der wir anfangs weder einen möglichen Suizid, einen Unglücksfall oder eine Straftat ausschlossen, allerdings nicht aufgrund von Hinweisen oder einer Ahnung, sondern aus Routine, und weil wir sonst, hätten wir eine konkrete Gefahr für »Leben oder körperliche Unversehrtheit« ausgeschlossen, den Fall nicht hätten weiterverfolgen können. Das bloße Verlassen des gewohnten Lebenskreises zog ausschließlich bei Kindern und Jugendlichen Sofortmaßnahmen nach sich.
Hätte ich nach dem Ende der Vermissung des Cölestin Korbinian die Wahrheit geschrieben, wäre ich nicht nur von den meisten meiner Kollegen ausgelacht worden, sie hätten mich zudem zur Rede gestellt, wie es möglich gewesen sei, dass mich dieser Mann und eventuell auch seine Frau derart an der Nase herumfuhren konnten und ich dies trotz meiner zwölfjährigen Erfahrung auf der Vermisstenstelle nicht bemerkt hatte.
Darauf hätte ich keine Antwort gewusst. Ich hätte nur mit einer Lüge antworten können.
Nicht nur, dass zu keiner Zeit eine Gefahr für Leib und Leben des Gesuchten bestand – Anzeichen von Suizidabsichten hatte es bei Korbinian nie gegeben, was wir sowohl durch Aussagen der Ehefrau und von Arbeitskollegen als auch seines Hausarztes eindeutig feststellten, und konkrete Spuren eines Verbrechens oder Unglücks tauchten während der gesamten Ermittlung nicht auf –, im Grunde hatte er nicht einmal seinen gewohnten Lebenskreis verlassen. Eingedenk aller Umstände, die die Existenz Korbinians und die seiner Frau in jenem Juli schlagartig zu verändern schienen, muss ich vom heutigen Standpunkt aus erklären: Dieser Mann war nie verschwunden.
Er war nicht mehr da, aber er war nicht verschwunden.
Er kam einen Monat lang – vom dritten Juli bis zum zweiten August – nicht nach Hause, aber er war nicht verschwunden.
Niemand in der Stadt sah ihn mehr, aber er war nicht verschwunden.
Und ich fand ihn, obwohl er nicht verschwunden war. Dafür war ich eineinhalb Tage lang unauffindbar, ohne dass ich es bemerkte. Zumindest dachte ich nicht darüber nach.
Was von alldem hätte ich in einem polizeilichen Bericht
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