Juliregen
war sie jedoch viel zu unruhig, und so legte sie das Buch bald wieder beiseite, blätterte in einem Modemagazin und beobachtete ihre Kinder. Diesen wurde es auf der langen Bahnreise ebenfalls langweilig, und sie hielten Fräulein Agathe auf Trab. Schließlich wollte Lore Doro an sich nehmen, damit die Kinderfrau sich nur um Wolfi kümmern musste, doch Kowalczyk griff ein und übernahm den Jungen.
Lore wunderte sich über die Geduld, die der ehemalige Ulanen-Wachtmeister für das Kind aufbrachte, erinnerte sich dann aber daran, dass Kowalczyk einst Bursche bei Fridolins Vater gewesen war und während der Ferien mit ihrem Mann gespielt hatte. Damals konnte Fridolin kaum älter gewesen sein als ihr kleiner Wolfhard.
Die Städte blieben hinter ihnen zurück wie Wegmarken, die ihnen anzeigten, dass ihr Ziel immer näher rückte. Ab Danzig wurde Lore unruhig. Zu ihrer eigenen Verwunderung konnte sie es auf einmal kaum mehr erwarten, die Stätten ihrer Kindheit wiederzusehen. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal in dieser Gegend gewesen war. Es musste 1876 gewesen sein, also vor fast zwölf Jahren.
Auf den ersten Blick hatte sich in Heiligenbeil wenig verändert. Ein paar neue Häuser standen am Stadtrand, andere waren aufgestockt worden. Doch als der Zug hielt und Lore als Erste ihrer Gruppe ausstieg, kam es ihr so vor, als wäre sie in der Zeit zurückgereist. Sie ging langsam weiter, während Nele und Agathe ihr mit den Kindern auf dem Arm folgten und Kowalczyk davoneilte, um sich um das Gepäck zu kümmern.
»Nun, wie ist es?«, hörte Lore die Stimme ihres Mannes neben sich.
»Seltsam! Es fühlt sich so an, als hätte es die Jahre in Bremen und in Berlin nie gegeben.« Lore schüttelte den Kopf und zwang sich, daran zu denken, dass man das Jahr 1887 schrieb und sie nicht mehr das junge Mädchen war, das damals mit klopfendem Herzen in den Zug eingestiegen war, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen.
»Bringen wir es hinter uns!«, sagte sie und schritt den anderen voraus zum Bahnhofsplatz. Mehrere Fuhrwerke und zwei Kutschen standen dort. Einer der Wagen trug das Wappen derer von Trettin auf der Seite. In der Großstadt war dies längst aus der Mode gekommen, doch hier, ein ganzes Stück östlich der Weichsel, herrschten noch die althergebrachten Sitten.
Der Kutscher sah ihnen entgegen und atmete sichtlich auf, als er Fridolin erkannte. »Willkommen in Ostpreußen! Ich bin überglücklich, dass Sie gekommen sind, Herr von Trettin, und Sie natürlich auch, gnädige Frau.«
»Hannes, nicht wahr?« Zwar hatte Fridolin Gut Trettin das letzte Mal vor fünf Jahren aufgesucht, erinnerte sich aber an den rechtschaffen wirkenden Mann. Damals war dieser Vorarbeiter gewesen, und daher wunderte er sich, ihn nun als Kutscher zu sehen.
»Alle sind glücklich, dass Sie endlich kommen. Nun wird es mit dem Gut endlich wieder aufwärtsgehen. Viel schlimmer, als es jetzt ist, kann es nämlich nicht mehr werden.«
Hannes verbeugte sich unbeholfen vor Fridolin und Lore und öffnete den Schlag.
»Wo ist Malwine – ich meine die Witwe meines Vetters?«, fragte Fridolin.
»Die gnädige Frau erwartet Sie auf Trettin. Sie geht kaum noch vor die Tür und ist, wenn Sie es mir erlauben zu sagen, in letzter Zeit arg seltsam geworden. Wenn sie Trettin verlässt, wird ihr kaum jemand nachweinen!«
Es war ein hartes Urteil, das hier über Malwine gefällt wurde, doch nach Lores Meinung hatte die Frau es verdient. Sie stieg ein und übernahm Doro, während Agathe Wolfi dazu zu bewegen versuchte, sich so hinzusetzen, wie es sich gehört. Der Junge war jedoch zu aufgedreht und gehorchte erst, als Kowalczyk den Kopf hereinstreckte und ihn mahnend ansah. »Was ist die erste Pflicht von Soldat, Rekrut?«
»Zu gehorchen!«, antwortete Wolfi und versuchte zu salutieren. Danach benahm er sich anständig und bat seine Hüterin, ihn auf den Schoß zu nehmen, damit er zum Fenster hinausschauen konnte.
Fridolin setzte sich neben Lore, während Nele und Kowalczyk auf das Fuhrwerk kletterten, mit dem das Gepäck nach Trettin gebracht wurde. Wenige Minuten später rollte der Wagen durch Heiligenbeil und fuhr schließlich in Richtung Bladiau.
Zwar näherte die Kutsche sich immer mehr Lores Heimat, und doch stellte sich nach und nach ein Gefühl der Fremdheit ein, das sie überraschte. Fast schien es ihr, als hätte eine andere Person das erlebt, was damals geschehen war.
Bald blieb auch Bladiau hinter ihnen zurück, und kurz
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