Juliregen
darauf bog Hannes in Richtung Trettin ab. Sie durchquerten den Forst, der Lore so vertraut war, und sie entdeckte auch bald den schmalen Weg, der zum einstigen Jagdhaus ihres Großvaters führte. Mittlerweile gehörte es dem Sohn des einstigen Landarztes Mütze, der in Königsberg eine gutgehende Arztpraxis führte.
Viel Zeit, an den einstigen Freund ihres Großvaters zu denken, der diesem damals geholfen hatte, sie Malwines Zugriff zu entziehen, blieb Lore nicht, denn schon sah sie das Dorf vor sich, in dem sie aufgewachsen war. Als sie am Pfarrhaus vorbeikamen, trat der Pastor heraus und starrte verblüfft auf die Kutsche.
Der Mann war alt geworden, doch das stimmte Lore nicht milder. Immerhin hatte der Pastor damals ihrem Großvater erklärt, der Tod ihrer Eltern und ihrer Geschwister beim Brand ihres Hauses sei die Strafe des Himmels für dessen sündhaftes Leben. Inzwischen wusste sie, dass Malwines Ehemann Ottokar von Trettin das Feuer gelegt hatte. Dieser war zwar schon seit Jahren tot, doch als sie zum Herrenhaus hinaufblickte, erwartete sie fast, er würde zur Tür herauskommen und sie und Fridolin verspotten, weil sie die Reise vergebens angetreten hatten.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte Lore, wie schäbig das Herrenhaus wirkte. Etliche Fensterläden hingen schief, und an einigen Stellen war der Putz abgeblättert. Auch hätte sie nicht darauf gewettet, dass das Dach noch dicht war. Noch schlimmer empfand sie die Lücke, die die niedergebrannte Scheune hinterlassen hatte. Diese war schon vor Monaten dem Feuer zum Opfer gefallen, doch noch immer ragten verkohlte Balken in die Höhe.
»Das sieht nicht gut aus«, murmelte Fridolin neben ihr, und das war noch untertrieben. Trettin wirkte weitaus heruntergekommener als Klingenfeld zu dem Zeitpunkt, an dem er es das erste Mal betreten hatte. Zwar gab es hier noch Vieh, und auf den Feldern und Wiesen arbeiteten einige Knechte und Mägde. Doch zu Lebzeiten des alten Herrn war es hier sehr viel lebhafter zugegangen.
Hannes hielt den Wagen vor der Eingangstür an, wickelte die Zügel um einen Pfosten und öffnete die Tür. »Ich bitte zu entschuldigen, dass die Leute nicht angetreten sind, wie es sich gehört. Aber etliche Knechte haben den Dienst aufgesagt und sind nach Königsberg oder Danzig gezogen, um dort in Stellung zu gehen, und für die wenigen, die geblieben sind, ist die Arbeit kaum zu schaffen.«
Fridolin entging nicht, wie hoffnungsvoll der Blick des Mannes auf ihm ruhte. Dieser schien in ihm den Retter des Gutes zu sehen. Doch da er jede Mark für die Fabrik auf Klingenfeld benötigte, würde er kein Geld in dieses Anwesen stecken können. Traurig streichelte er Lore die Hand. »Ich hätte dir ein schöneres Heimkommen gewünscht.«
»Das hier war nie meine Heimat. Ich bin dort drüben aufgewachsen!« Lore zeigte auf ein etwas abseits des Dorfes gelegenes Gebäude, das an jener Stelle erbaut worden war, an der einst das Haus ihrer Eltern gestanden hatte.
»Wenn es nach mir ginge, würde ich auf Trettin verzichten«, setzte sie hinzu und blieb vor der Tür stehen.
Eine Magd öffnete ihnen. »Die gnädige Frau erwartet Sie in ihrem Zimmer!«
»Führen Sie uns zu ihr«, befahl Lore und schritt hinter der Frau her. Diese war noch nicht alt, hinkte aber stark und stützte sich immer wieder auf einer Kommode oder einem anderen Möbelstück ab.
Lore hatte erwartet, dass Malwine Zimmer im ersten Stock des repräsentativen Mittelbaus bewohnte, die dem Gutsherrn und seiner Familie vorbehalten waren, doch augenscheinlich zog ihre angeheiratete Verwandte eine Kammer im Erdgeschoss vor.
Die Magd öffnete die Tür und blieb auf dem Flur stehen, während Lore eintrat und sich in einer fast undurchdringlichen Finsternis wiederfand. Die ohnehin recht kleinen Fenster waren mit dichten Vorhängen verhangen, und so dauerte es einige Augenblicke, bis Lore im Hintergrund ein Bett ausmachte und auf einem Lehnstuhl davor eine schattenhafte Gestalt, deren Gesichtszüge sie nicht erkennen konnte.
»Bist du es, Lore?« Malwines Stimme klang wie zerbrochenes Glas.
»Ja«, antwortete Lore nicht sehr freundlich.
»Mit Mann und Kindern?«, fragte Malwine weiter.
»So ist es!«
»Dann ist es gut.«
Lore fragte sich verwundert, woher die seltsame Zufriedenheit in der Stimme der alt gewordenen Frau rührte.
Da klang Malwines Stimme erneut auf, und diesmal wirkte sie sogar erfreut. »Nun kann ich Trettin beruhigt an seinen neuen Herrn übergeben. Darüber aber
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