Jung genug zu sterben
Pia lächelnd. »Woher kommen Sie?«
»Frankfurt. Meine Frau ist auf und davon, vor sechs Jahren. Übrigens mit einem Italiener.«
»Ach, das haben Sie sich jetzt ausgedacht!«
»Nein, wirklich.«
»Ein Woche wollen Sie mit mir nach Italien? Das ist eine Unverschämtheit!« Sie grinste aus dem halboffenen Fenster. »Normalerweise wollen mich die Kerle fürs ganze Leben! Eine Woche!«
Er lachte.
»Halt!«, rief sie. »Er hält. – Und da vorn fährt der Zug.«
»Und was soll das heißen? Ich denke, Ihr Mann und diese Frau wollen nach Italien.«
»Er will den Zug nach Tirano.«
»Wieso, wir sind doch auch mit dem Auto gleich dort.«
»Ja, aber … « Sie sah Lascheter auf dem Beifahrersitz. Die Tür stand offen, er wartete. »Wissen Sie, wo der Bahnhof ist?«
»Lassen Sie mich überlegen … Da war die erste Kurve. Das heißt, das ist Brusio. Die letzte Station vor dem Kreisviadukt.«
»Kreisviadukt? Da fährt die Bahn im Kreis?«
»Genau. Eine echte 36 0-Grad -Strecke. Die Trasse ist so steil hier, dass sie an Ort und Stelle Höhe verlieren muss. Sie schraubt sich also ein Stück tiefer, wie ein Flugzeug, das in die Warteschleife geht. Nach dem Kreis unterquert sie das eigene Gleis und fährt unten weiter. Fahren Sie da mal tagsüber lang, es sieht wunderschön aus.«
Pia fixierte Lascheter im wartenden Wagen. Autofahrer hupten, wenn sie an dem Lkw aus Deutschland vorbeimussten. »Ich habe Fotos gesehen«, sagte sie. »Das ist eine Wiese, und da dadrauf stehen diese Torbögen, aneinandergereiht, und unter einem von ihnen geht die Bahn durch.«
»Viadukt eben.«
»Und auf der Wiese gibt es Bäume und Esel und so komische Steinhaufen?«
»Keine Ahnung, daran kann ich mich nicht erinnern. – Sehen Sie, die fahren weiter. Zum Bahnhof, vermutlich. Das finde ich seltsam. Da kommt doch nur noch Campascio, dann Campocologno und dann schon Tirano.«
»Fahren Sie bitte zum Bahnhof vor und setzen Sie mich ab. Macht nichts, wenn Sie den silbernen Wagen überholen. – Noch mal, an Steinhaufen können Sie sich nicht erinnern? Die sind mir wichtig.«
»Nein, ich … Oder meinen Sie … Es gibt so merkwürdige … « Er machte mit der rechten Hand über dem Lenkrad eine Bewegung, als streichle er einen Kinderkopf. »Die sind mir schon ein paar Mal von der Straße aus aufgefallen … Was immer das ist. Sieht aus wie große Eiskugeln aus Stein.«
»Eiskugeln aus Stein! – Sehr gut! Fahren Sie mich so nah wie möglich da ran.«
Er war belustigt über seine eigene Begriffsstutzigkeit. Und schaltete durch.
63
»Sie sind ein toller Mann«, sagte Pia und leistete sich einen schnellen Kuss auf seine Wange.
»Wohnen Sie in der Schweiz?«, hörte sie noch, als sie die Tür des Lkw zuwarf.
Dann hörte sie, dass ein Kleinwagen schnell davonfuhr. Das ist der Lascheters Auto. Wahrscheinlich war die Frau froh, den Typen los zu sein.
Bisher lief es wie bei einer guten Stellprobe. Jenissej war aus dem Zug gestiegen und verließ den Bahnhof von Brusio. Lascheter versteckte seinen Kahlkopf hinter einem Baum, in dessen Krone helle Punkte im Halbmond schimmerten.
Apfelbaum wahrscheinlich. Tagsüber wär’s eine lächerliche Szene.
Und sie beobachtete Lascheter, wie er Jenissej beobachtete.
Die Dreierkonstellation geriet in Bewegung, wie Gestirne mussten sie sich zueinander verhalten. Auch das, fand Pia, hätte ein Bestandteil von Jenissejs Ausdruckstheater sein können. Lascheter war kein schlechter Schleicher.
Einmal trat Pia sehr schnell von einer Hecke zurück. Die Hecke bestand aus Eseln in der Nacht.
Mit einem kurzatmigen Hupen gingen die beleuchteten Fenster und Panoramakabinen des Zuges in die Kurve. Fotoapparate blitzten in die Dunkelheit hinaus. Kein Bild konnte die Kreisstrecke voll einfangen. Pia konzentrierte sich auf den Lichtschein des Zuges. Sie versuchte sich einzuprägen, was links und rechts der Gleise beleuchtet wurde.Einmal glaubte sie gleich neben den Schienen die
Eiskugeln
aus Stein
zu sehen, von denen der Frankfurter gesprochen hatte.
Auch Jenissej hatte offenbar den Vorteil des Lichts genutzt.
Der sieht sich auch nicht ein einziges Mal um, der Naivling, dachte Pia. Nicht die geringste Phantasie, dass ihm Lascheter im Nacken sitzt! Mein sensibler, alles merkender Jenissej!
Sie wünschte sich ein Mischpult, um die Szenerie einleuchten zu können. Stattdessen gab es den halb unter Wolken dahintorkelnden Halbmond, einen noch nicht ganz schwarzen Himmel, ein rotes Signallicht der
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