Justice (German Edition)
saßen paarweise auf Bänken nebeneinander, der Trommler ganz vorne und der Steuermann – oder in Milans Mannschaft die Steuerfrau Natalie – im Heck. Als stärkste Paddler, die sogenannten »Schlagleute«, saßen Milan und Alexander immer vorne und gaben den Rhythmus an.
Nach der Schule fuhr Milan mit seiner Vespa nach Hause. Er hatte noch Zeit, bevor das Drachenboottraining um fünf Uhr anfing. Seine Familie wohnte in einem großen Haus, das von hohen Mauern umgeben war. Das Haus lag unterhalb von Lion’s Head, dem zweiten, kleineren Berg, um den Kapstadt gebaut war. Oben auf der Mauer, die das Haus umgab, erstreckte sich Stacheldraht. Das Schild neben dem Eingangstor warnte potenzielle Einbrecher vor bewaffneten Schutzpatrouillen. Auch eine Überwachungskamera war neben der Hausklingel angebracht. In diesem Haus lebte Milan seit seiner Geburt. Er kam kurz nach der Entlassung Nelson Mandelas zur Welt. Damals waren die Hausmauern nicht so hoch wie heute, meinte jedenfalls Milans Vater. Außerdem war der Stacheldraht noch nicht nötig. Aber mit der neuen Freiheit nach der Apartheid organisierte sich auch die Unterwelt neu. Die im Anschluss folgende Welle von Kriminalität und Gewalt brachte Milans Familie fast dazu, wieder nach Deutschland zurückzuziehen.
Zurück war gut. Eigentlich war Milan Südafrikaner, kein Deutscher. Sein Vater auch. Nur sein Großvater war in Deutschland geboren worden, während des Zweiten Weltkrieges. Als Kind kam Milans Opa mit seiner Familie nach Südafrika und Kapstadt wurde zu seiner neuen Heimat. Milans Mutter jedoch war eine »waschechte Deutsche«. Sie kam aus einer Kleinstadt in der Nähe von Freiburg und hatte Milans Vater in einer schicken Kapstädter Bar kennengelernt, die ausschließlich Weißen vorbehalten war. Sie hatten sich auf Anhieb ineinander verliebt und Sabine blieb, um dann in die Familie Julitz einzuheiraten. Ein paar Jahre später war Milan – ihr einziges Kind – unterwegs.
In den Jahren nach der Apartheid war Milan öfter in Deutschland gewesen. Mit seiner Familie besuchte er seine Großeltern bei Freiburg und reiste durch die Heimat seiner Mutter. In Deutschland hatte Milan allerdings keinen Ort wie Kapstadt gefunden. Die Kombination aus endloser Küste, spektakulären Bergen und der schönen Architektur, von Häusern im Kolonialstil bis hin zu hochmodernen Wolkenkratzern war einfach unschlagbar. Zum Glück war seine Familie damals in Südafrika geblieben. Es wäre für Milan unvorstellbar, woanders zu leben.
In der Garage stellte Milan seine Vespa ab und ging auf die Haustür zu. Mit Erschrecken stellte er fest, dass sie einen Spaltbreit offen stand. Auch wenn seine Eltern zu Hause waren, ließen sie die Haustür nie auf. Egal, ob die hohen Außenmauern genügend Schutz vor Einbrechern boten oder nicht. In Südafrika konnte man es sich nicht leisten, nachlässig zu sein.
Mit rasendem Herzen schob er die Tür vorsichtig zur Seite und betrat das Haus. Es war totenstill. Von der Eingangshalle aus konnte er quer durch das lange Wohnzimmer sehen, bis auf den Balkon. Dahinter war das schimmernde Meer kaum vom blauen Himmel zu unterscheiden. Auch hier war niemand zu sehen. Mit leisen Schritten schlich er in den großen Raum. Die offene Küche war ebenfalls menschenleer. Es gab keine Spuren eines Einbruchs. Milan wollte gerade nach seiner Mutter rufen, als die Tür des Arbeitszimmers aufging und ein Mädchen heraustrat. Sie blickte den Jungen erschrocken an.
»Ach du lieber Himmel!«, fluchte sie auf Xhosa und schlug eine Hand an die Brust. »Du hast mich aber erschreckt!«
Milan blieb fast das Herz stehen. Nicht nur wegen des unbekannten Eindringlings, sondern auch weil das Mädchen umwerfend schön war. Sie war ungefähr so alt wie er und sie war schwarz. Sie trug einen engen roten Pullover und Jeans, die ihren reifen Körper betonten. Ihr Rücken war kerzengerade, ihr Hintern stippte hervor, ihr Busen war rund und voll. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht mit strahlend weißen Zähnen und vollen rosafarbenen Lippen. Ihre großen braunen Augen waren wachsam und glänzten energisch.
»Wer bist du?«, fragte Milan verwirrt.
»Mein Name ist Zeni«, stellte sich das Mädchen vor und lächelte. »Meine Mutter ist krank. Sie konnte heute nicht kommen.«
»Deine Mutter?«, stammelte er, immer noch etwas von der Rolle.
»Eure Putzfrau«, erwiderte Zeni.
Erst dann nahm Milan den Besen in ihrer Hand wahr und fühlte sich zutiefst beschämt. »Ach so ... Verstehe
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